Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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womöglich an ein anderes Mädchen vergeben worden, ehe sie wieder bei der Druckerei gewesen wäre. Außerdem war der Vater viel zu krank, um ihr gefährlich werden zu können. Er hatte Fieber und lag im Bett und hustete und am besten sagte man ihm vorerst einmal gar nichts davon. Damit er nicht vor lauter Aufregung noch kränker würde.

      Entschlossen schob sie diese Gedanken beiseite. Lieber sich an das Gedicht erinnern, das sie in der Mittagspause gelesen hatte. Die Mittagspause, die war gut gewesen. Neben dem Maschinensaal und der Setzerei gab es eigens einen Raum mit einem Ofen und mit Tischen, an denen man auf richtigen Stühlen sitzen durfte, und mit Garderobenhaken an der Wand und sogar einem Wasserhahn über einem Ausguss, an dem man sich die Hände waschen konnte.

      Ein anderer Ton herrschte hier als im Keller der Spinnerei, man merkte eben gleich, dass die Drucker etwas Besseres waren und sich mit geistigen Dingen beschäftigten. Auch unter den Mädchen gab es einige, die in der Pause lasen. Sie brachten sich die Ausschussbögen mit fehlerhaften Drucken mit an den Tisch und studierten sie beim Essen. Erna, ein sympathisches Mädchen etwa in ihrem Alter, die an der gleichen Maschine arbeitete wie Clara – sie musste die bedruckten Papierbögen auf den Stapel schichten, wenn sie an Fäden aus der Maschine herausgeführt wurden, und über jeden gedruckten Bogen ein Löschpapier legen – hatte ihr in der Pause einen der Bögen hingeschoben und auf ein Gedicht gewiesen: Hier, schau, das ist aus einer Literaturzeitschrift, die wir drucken, ist das nicht gut?

      Clara hatte noch niemals Gedichte gelesen, kannte nur die Gesangbuchverse und die schwülstigen Strophen, die sie in der Schule auswendig gelernt und nie verstanden hatte. Gedichte, hatte sie immer gedacht, das ist nur was für die besseren Leute. Doch dann diese Zeilen, auf die Erna mit dem Finger gezeigt hatte:

      Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,

      vom Hof her stampfte die Fabrik,

      es war die richt' ge Mietskaserne

      mit Flur- und Leiermannsmusik!

      Im Keller nistete die Ratte,

      parterre gabs Branntwein, Grog und Bier,

      und bis ins fünfte Stockwerk hatte

      das Vorstadtelend sein Quartier

      Sie hatte nicht gewusst, dass es solche Gedichte gab. Solche Worte, die von dem erzählten, was sie kannte, und die es doch weit über alles hinaushoben, was sie kannte:

      Dort saß er nachts vor seinem Lichte

      – duck nieder, nieder, wilder Hohn! –

       und fieberte und schrieb Gedichte,

       ein Träumer, ein verlorner Sohn!

      Sein Stübchen konnte grade fassen

       ein Tischchen und ein schmales Bett;

       er war so arm und so verlassen,

      wie jener Gott aus Nazareth!

      Sie hatte die Verse auswendig gelernt, sie, für die das Auswendiglernen in der Schule immer nur eine mehr als lästige Pflicht gewesen war, hatte ihre Mittagspause darauf verwandt, ein Gedicht zu lernen! Nun versuchte sie es beim Nachhausegehen wieder aufzusagen, die dritte Strophe fiel ihr nicht ein, sie hatte sie auch nicht so richtig verstanden, doch die vierte wusste sie wieder:

      In Fetzen hing ihm seine Bluse, sein Nachbar lieh ihm trocknes Brot, er aber stammelte: O Muse! und wusste nichts von seiner Not. Er saß nur still vor seinem Lichte, allnächtlich, wenn der Tag entflohn, und fieberte und schrieb Gedichte, ein Träumer, ein verlorner Sohn!

      »Ein Träumer, ein verlorner Sohn«, flüsterte sie vor sich hin. Die Geschichte vom verlorenen Sohn kannte sie, im Religionsunterricht hatten sie sie lernen müssen: Der verlorene Sohn war aus reichem Haus und hatte sich sein Erbe auszahlen lassen, aber er hatte alles Geld durchgebracht und nun musste er Schweinefutter essen.

      Ob auch dieser Dichter eigentlich aus reichem Haus war? Gebildet bestimmt, sonst könnte er ja nicht dichten. Aber trotzdem lebte er in Not und hatte eine zerrissene Bluse und wohnte in einer winzigen Kammer und konnte sich nicht einmal trockenes Brot kaufen. Und war glücklich bei alldem, weil er etwas Höheres hatte, wofür es sich zu leben lohnte.

      Eine unbestimmte Sehnsucht erfasste sie. Hätte sie nur auch so etwas, was sie über das graue Einerlei hinausheben würde, sodass sie es gar nicht mehr spüren würde!

      Sicher, da war der Wunsch nach einem Kleid und einem Tanzvergnügen. Aber sie spürte wohl, dass das nicht das Gleiche war wie das, wovon der Dichter dieser Verse sprach.

      Johann Nietnagel hieß er. Sein Name hatte unter dem Gedicht gestanden. Er schreibe öfter für die Literaturzeitschrift, hatte Erna gesagt, aber sonst wusste auch Erna nichts über ihn.

      Clara seufzte. Fast war ihr der Weg nach Hause zu kurz. Sie hätte gern noch ein paar Minuten gehabt, um an das Gedicht zu denken. Gleich würde sie der Mutter erklären müssen, warum sie später nach Hause kam als von ihrer Kurzarbeit, und wenn sie Pech hatte, erfuhr gar der Vater davon, dass sie die Fabrik gewechselt hatte.

      Sie erreichte die Straße, in der sie wohnte, sah von Weitem ihren Häuserblock. Eine Frau mit Wäschekorb unter dem Arm stieg eben die Treppe zum Krämerladen hinunter, der im Keller des Vorderhauses ihrer Mietskaserne eingerichtet war, ein kleiner Junge lief hinter ihr her. Waren das nicht Jenny und Moritz? Ein paar Worte mit Jenny reden, das wäre gut.

      Clara ging schneller, eilte in den Laden hinunter. Vor der Theke stand ein altes Dienstmädchen und kaufte ein. Hinten aber im Winkel des Kellers drehte Jenny die Wäschemangel. Stine lag auf dem Stapel ungebügelter Wäsche und schlief.

      »Clara, schau her, was ich hab! Das hat mein Papa mir gemacht!« Moritz rannte ihr entgegen und zeigte ihr das grob geschnitzte kleine Holzpferd, das er in der Hand hielt.

      »Wie schön!« Sie strich dem Jungen durch die Haare. »So ein schönes Pferdchen.« Ihr Vater hatte ihr nie irgendein Spielzeug geschnitzt.

      »Stell dir vor, Jenny, ich hab die Fabrik gewechselt«, platzte sie dann heraus. Während sie der Freundin Laken und Handtücher zureichte, erzählte sie, was sie an diesem Tag erlebt hatte.

      Wie erleichtert war sie, als Jenny sagte: »Das hast du gut gemacht!«

      »Meinst du?«, fragte sie, um es noch einmal zu hören.

      »Natürlich«, bestätigte die Ältere. »Was du in der Spinnerei verdient hast, war sowieso nur ein Schandlohn, und höher, als du warst, hättest du da auch nicht mehr kommen können. Nur die Männer können aufsteigen in die besseren Positionen, die Frauen bleiben ja doch immer bei den Hilfsarbeiten, ganz gleich, wie geschickt und tüchtig sie sind. Und dann auch noch Kurzarbeit und die ganzen Strafgelder! Gut so, dass du gegangen bist, das ist das einzige Recht und Mittel, das wir Arbeiterinnen haben: die Fabrik zu wechseln, wenn es uns zu bunt wird. Wenn deinem Fabrikherrn alle Arbeiterinnen wegbleiben würden, ja, dann würde er sich umschauen, aber bis die Frauen so viel Solidarität lernen, da fließt noch viel Wasser die Spree hinab.«

      »Wie du das alles weißt«, meinte Clara bewundernd.

      Die Freundin lachte. »Ich geh ja auch zu Versammlungen und in die Arbeiterinnenschule und ich les den Vorwärts und die Gleichheit und die Agitationsschriften für Frauen!«

      »Und ich hab heut ein Gedicht gelesen«, erwiderte Clara. »Sogar auswendig gelernt. Ein Gedicht von Johann Nietnagel.« Sie sprach den Namen mit Andacht.

      »Johann Nietnagel?«, wiederholte Jenny lebhaft. »Den kenn ich! Der wohnt ja bei mir im Haus.«

      »Was? Wie? Das …« Clara kam ins Stottern. Ein richtiger Dichter bei ihnen in der Mietskaserne. Und nicht irgendeiner, sondern