Sabine von der Wellen

Die Hoffnung aus der Vergangenheit


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einmal bei mir melden würde. Aber sie tat es nicht und in der folgenden Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, tat ich deshalb etwas, was alles ins Rollen brachte. Ich schrieb ihr eine SMS.

      „Hallo Carolin, es tut mir leid. Wir hätten besonnener unser Gespräch führen sollen. So habe ich kein gutes Gefühl und kann nicht so einfach wieder gehen. Bitte lass uns noch einmal in Ruhe über alles reden. T“

      Ich hatte fast augenblicklich eine Antwort bekommen. „Wann und wo? So schnell es geht.“

      Erst war ich etwas irritiert gewesen, weil sie sofort geantwortet hatte und sich so kurzhielt. Aber sie wollte mich immerhin sehen und das überlagerte meinen Argwohn.

      „In einer halben Stunde bei der Hütte“, hatte ich daraufhin zurückgeschrieben und als Antwort erhalten: „Welche Hütte?“

      Ich hätte da schon begreifen müssen, dass es eine Falle war, in die ich dumm hineintappte.

      „Unsere Wanderhütte“, schrieb ich und eilte zu meinem Fahrrad.

      Ich radelte wieder das ganze Stück nach Brickwedde und von dort zu der Wanderhütte, bei der wir uns schon zweimal getroffen hatten. Von Carolin sah ich auf dem Stück, das wir eigentlich gemeinsam hätten meistern müssen, nichts. Aber ich hoffte, dass sie schon da war und auf mich wartete.

      An der Hütte war aber niemand und ich stellte mein Fahrrad ab, als ein Auto die einsame Straße hochgefahren kam. Es war weit nach Mitternacht und ich war darüber wirklich irritiert. Es fuhr mit Aufblendlicht und blendete mich.

      Ich war daraufhin ein Stück in die Hütte zurückgewichen, um dem blendenden Lichtkegel zu entkommen, als das Auto direkt vor der Hütte anhielt, eine Autotür aufgestoßen wurde und jemand am Eingang der Hütte erschien.

      Mir war bei der Silhouette, die sich vor mir aufgebaut hatte, regelrecht der Atem gestockt.

      „Tim, wartest du auf meine Schwester? Die ist leider verhindert. Aber ich dachte mir, ich bin bestimmt auch willkommen.“

      Es war Julian.

      An diesem Abend stand ich meinem Halbbruder zum zweiten Mal gegenüber und mir war klar, er konnte mich nur über Carolins Handy und meine SMS an sie gefunden haben.

      Ich war schrecklich beunruhigt. „Wo ist Carolin?“

      „Sie meinte, ich soll dich abholen. Sie hatte keine Zeit. Aber wenn du mitfährst, kannst du sie sprechen.“

      Mir war klar, dass das keine gute Idee war. „Bestimmt nicht!“, hatte ich daher bissig geantwortet.

      „So, du willst nicht. Und was ist, wenn ich Carolin in meiner Gewalt habe und ihr Schlimmes antue, wenn du nicht mitkommst?“

      Mit diesen Worten hatte Julian meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das hieß, es sollte beginnen. Wovor ich mich schon ewig gefürchtet hatte, sollte sich erfüllen.

      Es war meine Angst, die mich ihn aus dem Weg kicken und die Flucht aus der Enge der Hütte ergreifen ließ. Aber Julian war schnell. Der Automotor brüllte auf, noch bevor ich mich auf mein Fahrrad schwingen konnte, und ich wurde auf die Motorhaube katapultiert. Als ich stöhnend am Boden lag, zerrte Julian mich hoch und in sein Auto. Dann fuhr er mich in sein Labor. Es war nicht das von Kurt Gräbler, sondern Julians, dass er sich in einem alten Keller eines zusammengefallenen Bauernhofes eingerichtet hatte.

      Ich weiß noch, wie er auf der Fahrt hämisch gefragt hatte: „Was ist denn mit der großen Liebe aus dem Vermächtnis des Alchemisten? Häh? Ist wohl nix, was?“

      Ich höre noch heute sein herablassendes Lachen.

      Julian wusste damals schon, dass Carolin zu mir gehört. Aber er half mir nie, sie auch zu bekommen. Er war mir gegenüber immer vollkommen empathielos.

      So hatte er mich in dieser Nacht auch einfach die Treppe in diesen Keller gestoßen. Dort sah ich Carolin auf einem Eisenbett liegen. Sie bewegte sich nicht und ich dachte erst, dass sie schon tot sei. Aber sie war nur ohnmächtig oder betäubt. Aber ich glaubte anfangs, dass für sie schon alles vorbei war.

      Julian erklärte mir aber: „Sie schläft nur. Es ist eigentlich schade, sie ist nämlich wirklich süß. Aber dennoch muss sie sterben.“

      Damit war klar, was passieren sollte.

      Auf einem alten Holztisch stand eine Apparatur, die mit einem Bunsenbrenner etwas zum Kochen brachte, das in weitere Gläser lief, die mit verschiedenen tropfenden Mitteln aus weiteren Schläuche gespeist wurde und in einem einzigen Röhrchen zusammenlief. Es standen noch weitere Bunsenbrenner um die Apparatur herum, die aber nicht mehr brannten und man sah ein einzelnes Glas, in das unendlich langsam eine gelbe Flüssigkeit tropfte. Das war wohl das Mittel, dass ihn befähigen sollte, Kurt Gräbler in sich auferstehen zu lassen. Wie auch immer.

      Und dann kam, was kommen musste. Julian wollte meine Hilfe. „Tim, ich habe eine Formel und ich weiß, wie ich alles zusammenstellen muss. Aber es gibt eine zweite Formel, die als nächstes zum Einsatz kommen muss und mir die Vorlage liefert, was ich als Nächstes dieser Flüssigkeit hinzufügen muss. Weißt du, von was ich rede?“

      Es war fast alles wie in meinem Traum.

      „Ach komm, Bruderherz. Streng deinen Grips mal ein bisschen an. Eine wichtige Formel … oder etwas, was eine Formel betrifft. Du hast bestimmt von Kurt Gräbler die Eingabe bekommen. Ich kann mir das nicht erklären. Ich weiß einfach nicht, was gemeint ist. Also musst du es wissen … oder gibt es ein verdammtes Schlüsselwort, das mir das Ganze verständlich macht? Es muss so etwas geben! Es muss …!“

      Da ich ihm nicht helfen konnte, schlug er mich zusammen und gebrüllte: „Verdammt Tim! Nicht schlappmachen! Du musst das wissen! Erinnere dich doch mal!“

      Ich glaube, ich sagte ihm, dass ich ihm nicht helfen würde, auch wenn ich es könnte. Ich weiß nicht mehr genau, wie alles kam. Julian drehte auf jeden Fall ziemlich durch und schlug und trat mich immer wieder, dass ich dachte, er bringt mich um. Aber es war Carolins hysterischer Schrei, der ihn aufhielt. „Julian, hör auf!“

      „Der Penner will’s mir nicht sagen“, brüllte der Carolin an, die nur fassungslos erwiderte, als hätte das Julian je interessiert: „Bitte Julian, Tim ist doch dein Bruder!“

      Das war ihm sowas von egal. Aber Carolin überredete ihn dann doch irgendwie, dass er mich losband und an ihr Bett kettete. So konnte sie sich an meine Seite sinken lassen, um mich an sich zu ziehen. Aber auch sie war mit einer Handschelle an das Bett gekettet und konnte nicht viel tun. Ich weiß noch, wie sie sagte: „Es tut mir so leid! Ich hätte auf dich hören sollen.“

      Ja, das hätte sie. Aber ich war in diesem Augenblick froh, wenigstens diesen Moment noch mit ihr zu haben und sie noch einmal so dicht spüren zu können. Wir waren vereint und ich mir sicher, dass ich es so sogar ertragen konnte zu sterben.

      Julian begann wie ein Irrer in irgendwelchen Unterlagen herumzublättern und diese Flüssigkeit immer wieder zu begutachtete, während Carolin mich im Arm hielt.

      „Ist Tim in Ordnung?“, hatte er irgendwann gefragt, weil er wohl befürchtete, dass er zu sehr hingelangt hatte und ich mehr tot als lebendig war.

      „Carolin, du musst ihn dazu bringen, dass er mir hilft. Unbedingt!“

      Aber was sollte Carolin schon tun? Sie wusste genauso wenig wie ich von all dem, was wir jetzt wissen und was Julian vielleicht geholfen hätte, seinen Fehler zu erkennen.

      Der wurde sehr redselig. Er dachte wohl, dass er uns damit doch noch ins Boot holen könnte. „Du weißt mittlerweile, dass wir beide seit unserer jüngsten Kindheit diese Träume haben. Aber du wusstest nie, warum du all diese Dinge träumtest. Ich erkannte hingegen schon sehr früh, was diese Träume zu bedeuten hatten und versuchte sie zu nutzen. Und ich fand heraus, dass wir alle ein Puzzelteil zu einer großen Sache sind. Ich machte mir zu meinem Lebenswerk, dieses Puzzle zusammenzufügen und seiner wirklichen Bestimmung zuzuführen: Der Auferstehung eines Menschen, der uns, seine Nachfahren, schon zu seinen Lebzeiten auserkoren hatte, um sein großes Werk zu vollenden.