Sabine von der Wellen

Die Hoffnung aus der Vergangenheit


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nicht anders, als ich begriff, dass uns mehr verband als nur der Umstand, dass Kurt mein Vorfahre ist und Carolin in seinem Haus lebt. Ihr muss das dort klargeworden sein. Und wer weiß, was ihr noch alles klarwurde, als ich ihr sagte: „Mein Urgroßvater hatte wohl Angst, dass er noch nicht weit genug mit seinem Studium vorangekommen war, um auszuschließen, dass er völlig von der Welt muss, wenn ihn im Krieg ein Schuss trifft oder eine Granate zerfetzt.“

      „Was? Du glaubst, er meinte, er könne es schaffen, nicht sterben zu müssen?“

      Sie klang damals so unglaublich fassungslos und ich wollte sie beruhigen. „Nein, das konnte er wohl nicht. Denn er verschwand eines Tages spurlos, was mir ganz nach tot aussieht.“ Dann hatte ich ihr noch von meiner Oma erzählt, und dass sie nur gezeugt worden war, um von ihrem Vater als eine weitere Möglichkeit, dem Tod zu entrinnen, angesehen zu werden.

      Ich weiß bis heute nicht, wie weit Carolin zu dem Zeitpunkt eigentlich schon über alles Bescheid wusste. Ich weiß noch, wie sie lauernd gefragt hatte: „Was hat das Ganze mit einem Keller in unserem Garten zu tun?“

      Ich erklärte ihr: „Auf der ersten Seite eines der Bücher, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte, war ein Eintrag gemacht worden, der viel später geschrieben wurde als der Rest. Darauf stand: Liebste Tochter! Wenn du diese Bücher liest, wirst du erkennen, welch wichtiger Weg mich durchs Leben führt und warum alles geschah, wie es geschah. Ich bin einem Geheimnis auf der Spur und hoffe, dass sich der Wunsch nach ewigem Leben für mich bewahrheiten wird. In meinem unterirdischen Labor in meinem Garten halte ich hoffentlich die Macht über Leben und Tod in den Händen. Darum suche ich nach diesem Labor.“

      „Und was willst du dort?“, hatte sie gezischt.

      Ich weiß nicht, ob sie da schon von dem Labor und seinem Standort wusste. Aber heute weiß ich, sie hat es gefunden und war auch dort drinnen gewesen. Ich bekam niemals die Gelegenheit dazu und es graust mich bei der Vorstellung, dass sie ganz allein Kurt Gräbler darin gefunden hatte.

      Auf ihre Frage hatte ich geantwortet: „Ich erzählte dir doch bei dem Lagerfeuer von einem Vermächtnis, das einem die Vorfahren hinterlassen. Seit meiner Kindheit träume ich, dass ich etwas tun muss. Ich sehe mich diesen Keller finden und etwas darin zerstören. Ich weiß nicht was, aber es scheint sehr gefährlich für mich und alle zu sein, die noch betroffen sind. Ich sah dich und einen anderen Jungen in diesen Träumen und ich weiß, dass wir alle einem Tag entgegensteuern, der unser Tod sein wird, wenn ich nichts unternehme.“

      Ja, das hatte ich zu ihr gesagt. Das hatte ich ihr gestanden. Aber Carolin wurde nur schrecklich wütend.

      „Was? Das ist doch vollkommener Blödsinn! Einen Tag, an dem wir alle sterben?“ Sie drehte richtig durch.

      Ihre ablehnende Haltung traf mich und ich bereute sofort, ihr überhaupt von diesen Träumen erzählt zu haben. Aber ich konnte das nicht ungeschehen machen, und so hatte ich nur resigniert den Schwanz eingezogen. „Du glaubst mir nicht! Genauso wie meine Mutter früher oder meine Oma. Alle meinen, ich sei vollkommen verrückt. Aber ich hatte immer wieder diesen Traum und ich weiß, dass etwas geschehen wird, wenn ich nicht handele.“

      „Was glaubst du, soll das sein, dass du zerstören musst?“ wollte sie wissen.

      „Das weiß ich erst, wenn du mir sagst, wo dieser Keller ist.“

      Ich muss sie damit wirklich auf die Palme gebracht haben. Sie giftete, warum ich glauben würde, dass sie davon eine Ahnung hätte.

      Heute weiß ich, dass diese Ablehnung ihrerseits, was das Thema anging, sie lange Zeit geschützt hat. Hätte sie mir an dem Nachmittag gestanden, dass sie mehr weiß oder sogar den Standort des Labors preisgegeben, dann hätte das für sie schon sehr schlecht enden können. Denn der Feind hörte da wahrscheinlich schon mit. Denn als ich ihr erklärte, dass ich den Jungen suchen muss, von dem ich geträumt hatte und dass er das fehlende Puzzelteil sei, dass uns gefährlich werden konnte, unterbrach mich ein Klatschen.

      Was sich mir da offenbarte, haute mich um. Der junge Mann aus meinen Träumen stand leibhaftig vor uns und grinste mich hämisch an. „Schön, schön!“, rief er herablassend und sein Blick aus seinen dunkelbraunen Augen durchbohrte mich regelrecht vor Wut. „Aber meinst du nicht, dass du in eine Klapsmühle gehörst?“

      Ich konnte nur in dieses mir so vertraute Gesicht starren und in meinem Kopf liefen viele Filme gleichzeitig ab. Mir wurde klar, ich sah in meinen Träumen weder Kurt Gräbler noch meinen Vater, sondern eine jüngere Ausgabe meines Vaters. Mir schoss augenblicklich, dass ich das erste Kind meines Vaters vor mir hatte. Meinen großen Bruder. Und der baute sich vor Carolin auf und knurrte wütend: „Nah, Schwesterlein, ist das dein neuer Verehrer? Der hat ganz schön einen Sprung in der Schüssel.“ Dann wandte er sich mir zu und zischte aggressiv: „Was willst du noch hier, Spinner?“, und schlug mir vor die Brust.

      „Lass ihn, Julian!“, hatte Carolin ihn noch aufhalten wollen, während ich kaum reagieren konnte.

      „Lass ihn, Julian“, äfft er Carolin nach und knurrte wütend: „Spinner haben hier nichts zu suchen! Los, verpiss dich endlich und lass meine Schwester in Ruhe.“

      Er hatte sich damals dicht vor mir aufgebaut und mich so wütend und ablehnend angestarrt, dass es mir alle Kraft genommen hatte.

      Dann war alles sehr schnell gegangen.

      Carolin hatte mich noch gebeten: „Geh jetzt lieber. Wir sehen uns ein anderes Mal“, und mir damit gezeigt, auf welcher Seite sie stand. Vielleicht, wenn sie mich verteidigt hätte … mit mir gegen Julian gestanden hätte …

      Das der Typ aus meinem Traum ihr Bruder war, der mit ihr anstellen konnte, was er wollte und das Labor direkt vor der Nase hatte, machte mich damals zusätzlich fassungslos. Ich glaubte in diesem Augenblick keine Chance zu haben und floh.

      Völlig verzweifelt verbarrikadierte ich mich in meinem Hotelzimmer in Alfhausen und wusste nicht, was ich von all dem halten sollte. Da gab es Kurt und diese Träume, die mich seit meiner Kindheit heimsuchten und die Erkenntnis, dass es bei meinem Vorfahren einen Alchemisten gegeben hatte, den die Angst vor dem Tod Unglaubliches tun ließ. Er hatte nicht mal vor Inzest zurückgescheut, weil zu seiner Zeit die Alchemisten glaubten, durch ein Kind mit dem eigenen Kind eine Lebensverlängerung erwirken zu können. Aber er starb, bevor er die dadurch gezeugte Tochter für seinen Lebenserhalt töten konnte und somit war mein Vater Markus entstanden, und der zeugte mich … und davor Julian.

      Julian, sein Name hatte sich von dem Tag an tief in meine Eingeweide gebrannt. Ich hatte meinen älteren Bruder gefunden und denjenigen aus meinen Träumen, der Carolin und mich töten wollte. Damals war ich verunsichert, ob ich richtig lag. Heute weiß ich, dass sich alles so ereignet hatte, wie ich es geträumt hatte.

      Ich beschloss damals, wieder zu gehen. Ich fühlte mich dem Ganzen gar nicht gewachsen.

      So floh ich nach Wolfsburg und zu meiner Mutter, die mich nicht vergaß an den Pranger zu stellen, weil ich nicht auf sie gehört hatte. Sie dachte, mein Zustand konnte nur mit dem Zusammentreffen mit meinem Vater zusammenhängen.

      Ich war froh, als ich wenige Tage später erneut ein Engagement hatte und dem allen noch ein wenig entfliehen konnte. Aber es nützte nichts. Ich musste mich letztendlich doch wieder der Sache stellen, denn ich bekam Carolin und die Gefahr, in der sie schwebte, nicht mehr aus dem Kopf.

      Ich begann zu recherchieren, ob es noch andere Fälle gab, die unseren glichen. Aber ich fand nichts, außer die wilden Geschichten um Satanskulte und Blutinjizierende, die wie Kurt Gräbler glaubten, sich damit jung und ewig lebend erhalten zu können.

      Ich war von diesen Geschichten entsetzt und wollte mit Carolin darüber sprechen. Darum versuchte ich erneut eine Verbindung zu ihr herzustellen und schickte ihr die Hefte von Kurt Gräbler, die vom Dachboden meiner Oma stammten. Mir war zu der Zeit nicht klar, was ich wirklich damit bezweckte. Wahrscheinlich wollte ich, dass Carolin erkannte, dass ich mit allem recht hatte.

      Mit den Büchern des Alchemisten bat ich sie, sich bei mir zu melden. Es sollte durch eine geheime Botschaft an einem Aushang eines Lebensmittelladens sein, damit ich nicht