Sabine von der Wellen

Die Hoffnung aus der Vergangenheit


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Zeit noch durch dick und dünn ging. Die beiden suchten Bibliotheken und Friedhöfe auf und ahnten nicht, wie oft sich unsere Wege kreuzten. Sie wussten nicht, dass ich oft in dem Bus saß, mit dem sie fuhren.

      Ich tat einfach alles, um in Carolins Nähe sein zu können.

      Als ich eines Tages Zeuge wurde, wie sie mitten am Tag einen Albtraum oder schrecklichen Tagtraum erlebte, der sogar ihre Freundin erschreckte, ahnte ich, dass auch sie irgendwelche Träume quälten. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass vielleicht Kurt Gräbler auch bei ihr der Auslöser sein könnte. Schließlich wohnte sie in seinem Haus, dass vorher Jahrzehnte leer gestanden hatte, weil keiner es bewohnen wollte. Und augenscheinlich wusste Carolin von ihm und versuchte mehr über den Alchemisten zu erfahren. So zumindest interpretierte ich ihre Besuche in der Bibliothek und auf dem Friedhof, wo sie ganz offensichtlich Gräber inspiziert hatte. Aber ich dachte da noch, dass sie nur die Geschichte um das Haus interessieren würde. Etwas anderes kam mir zu der Zeit noch nicht in den Sinn, obwohl es offensichtlich war.

      Ich wollte auch mehr über ihn erfahren und ob es dieses Labor auf seinem Grundstück wirklich gibt, wie er es in seinen Büchern beschrieben hatte. Schließlich zeigten mir meine Träume, dass etwas Schreckliches in einem Labor stattfinden würde, was Carolins Leben, und vielleicht auch meins, beenden wird. Also musste ich dieses Labor finden und vernichten.

      Aber was wusste ich damals schon von den Zusammenhängen? Nichts! Und was ich zu wissen glaubte, war falsch. Ich glaubte, wenn ich das Labor fand, würde ich die Gefahr bannen können, die Carolin und mich das Leben kosten sollte. Aber ich hatte von nichts eine Ahnung und verstand auch meinen Eigenanteil an dem Ganzen nicht. Und nicht ich war es, der letztendlich unser Leben rettete und unseren Mörder aufhielt. Es war jemand, der überhaupt nichts mit all dem zu tun hatte.

      Ich wusste zu dem Zeitpunkt schon, dass der junge Mann auf dem Rennrad Carolins Bruder war und irgendwie machte er mich nervös, wenn ich ihn auch nur von weitem sah. Eine seltsame Beklommenheit machte sich in mir breit, wenn er das Haus verließ und auf seinem Rennrad davonfuhr. Es war wie eine Vorahnung. So war ich auch sehr beunruhigt und nervös, als ich mich eines Nachmittags mit wild pochendem Herzen erneut zu Carolins Haus wagte und mich in den Garten schlich. Ich wollte endlich dieses Labor finden, das Kurt Gräbler in seinen Aufzeichnungen erwähnt hatte. Es musste ein unterirdisches Kellergewölbe unter der Rasenfläche sein und ich hoffte, dass es noch sichtbare Anzeichen dafür gab.

      An diesem Nachmittag glaubte ich allein auf dem Anwesen zu sein. Aber zu meinem Entsetzen war Carolin doch Zuhause und lag auf einer Decke auf dem Rasen und las. Sie hatte mich entdeckte, bevor ich sie sah, und ich musste mich ihr stellen, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Und sie war so unglaublich unfreundlich.

      „Hey, was machst du hier?“, hatte sie damals losgewettert, bevor ich überhaupt irgendetwas hervorbringen konnte. Ich war deswegen sprachlos. So hatte ich mir unser erneutes Zusammentreffen nicht vorgestellt und der Umstand, dass sie so unglaublich unfreundlich zu mir war, hatte mich fassungslos und wütend gemacht. „Und warum versteckst du dich hinter einem Blumenbeet?“, blaffte ich deshalb zurück.

      Uns trennten damals nur wenige Schritte und ich konnte meinen Blick nicht von diesem Gesicht wenden, das mir so unglaublich vertraut vorkam und mich tief in meinem Inneren berührte, auch wenn sie mich ansah, als wäre ich ihr Feind.

      „Weißt du nicht, was Privatgrundstück heißt? Da haben Ungebetene keinen Zutritt. Also verschwinde hier!“

      Ja, Carolins Unfreundlichkeit war an diesem Nachmittag grenzenlos und ich hatte mich ernsthaft gefragt, ob sie unsere Verbindung gar nicht spürte, die sich mir regelrecht aufdrängte. Aber ich konnte sie schließlich nicht danach fragen und ihr Verhalten mir gegenüber ließ mich auf Konfrontationskurs gehen. Ohne darüber nachzudenken, riss ich ihr die Zettel aus der Hand, die sie umklammert hielt. Ich glaube, ich wollte ihr mit diesem Übergriff ein wenig Angst machen oder ihr meine Überlegenheit zeigen. Vielleicht wollte ich auch nur meine Angst und ihre Überlegenheit überspielen. Was weiß ich. Aber was ich ihr da entrissen hatte war keine Kleinmädchengeschichte oder ein Schulaufsatz. Es waren Internetausdrucke über ein einziges Thema.

      „Du interessierst dich für Alchemie?“

      Sie hatte mir ziemlich verärgert die Papiere wieder aus der Hand gerissen und gebrummt: „Siehst du doch.“

      „Hier wohnte mal ein Alchemist“, hatte ich daraufhin eingeworfen, woraufhin sie nur erwidert hatte: „Ich weiß.“

      Irgendwie wollte kein vernünftiges, nettes Gespräch zwischen uns gelingen. Letztendlich hatte sie mich gefragt, was ich eigentlich in ihrem Garten suchen würde und ich hatte ihr nur geantwortet: „Haben dir deine Träume das noch nicht verraten?“ Das ist so ziemlich das letzte, an was ich mich von unserem Gespräch erinnere. Ich hatte ihr nichts von dem Labor gesagt und sie hatte mir nichts von einem Labor erzählt. Dabei hatte ich sie mit meiner Frage herausfordern wollen. Schließlich hatte sie zu dem Zeitpunkt schon fünf Jahre in dem Haus gewohnt und ich dachte, sie müsse etwas wissen. Vielleicht wollte ich auch nur eine Gemeinsamkeit finden. Aber ich lag an diesem Nachmittag noch völlig falsch. Sie träumte zwar genauso wie ich. Aber niemals von mir oder dem, was ich träumte.

      So hatte dieses leidige Zusammentreffen auch ein schnelles Ende gefunden, weil ich ziemlich kopflos das Feld geräumt hatte. Ich floh regelrecht vor ihr und unserer Unfähigkeit, uns vernünftig und wie Freunde zu verhalten. Dabei war das alles, was ich damals wollte.

      Heute weiß ich, sie hatte ihre ganze Kindheit Kurt Gräbler in sich wüten gehabt, genauso wie ich. Aber während ich ihn als Freund sah, wirkte er in ihr als Unruhestifter, der ihre Träume ausschließlich in Albträume verwandelt hatte. Ich muss ihr mit meiner Frage nach ihren Träumen extrem angstgemacht haben. Schließlich war ich für sie ein vollkommen Fremder, der nichts darüber wissen konnte.

      Aber ich war mir sicher, dass sie das Mädchen aus meinen Träumen war und der Umstand, dass sie in dem Haus des Alchemisten lebte, gab mir das Gefühl, dass ich richtigliegen musste. Carolin war mit mir durch den Alchemisten verbunden und er hatte mich zu ihr geführt. Davon war ich überzeugt.

      Das Gefühl, das mit dieser Erkenntnis einherging, brachte mich aber auch völlig durcheinander. Es schmerzte mich, dass ich ihr nicht ehrlicher begegnet war und nicht den Mut aufgebracht hatte, ihr den Grund meines wirklichen Herziehens zu erklären.

      Ich war damals noch so unfähig, vernünftig Gespräche mit Mädchen zu führen. Und mit Carolin war es schwieriger als mit je einer anderen zuvor. Bei ihr war ich oft gehemmt, verstört und völlig unfähig. Aber ich wusste, das musste sich ändern. Zumal in mir alles nur noch sie wollte. Doch an diesem Nachmittag hatte ich es vollkommen versaut. Mir das allerdings einzugestehen, lag mir damals noch fern.

      Meine Mutter hatte mich gelehrt, dass nichts, außer sie selbst, über mir steht und ich alles haben kann und mir nehmen kann, was ich will. Ich war ein begnadeter Pianist, dem die Welt zu Füßen lag. Und so hatte ich bis dahin auch meine Erfahrungen mit Mädchen gemacht. Wenn ich sie wollte, nahm ich sie mir. Und wonach mir war, das wurde gemacht. Nichts anderes interessierte mich. Einhalt gebot mir bis dahin nur einer auf diesem Planeten: Meine Mutter.

      Aber Carolin löste in mir etwas aus, das ich bis dahin nicht benennen konnte. Ich wollte sie für immer an mich binden.

      Dieser Wunsch besteht bis heute, egal was bisher geschah. Und heute weiß ich sogar, dass wir füreinander bestimmt sind. Damals ahnte das allerdings noch keiner von uns. Auch Julian nicht, von dem ich zu dem Zeitpunkt noch dachte, dass er nur der Bruder von Carolin ist.

      Carolin und mein Zusammentreffen in ihrem Garten war schlecht gelaufen und ich hoffte, sie auf einer Jugendveranstaltung in der Gegend erneut zu treffen, um meinen Auftritt in ihrem Garten wieder gutmachen zu können. Etwas drängte mich regelrecht dazu.

      Tatsächlich war sie da. Ich fand sie in der Sektbar, mit so einem blonden Schnösel mit leuchtend blauen Augen. Ich stand direkt hinter ihr an der Theke und sah ihn mir genau an. Ich fragte mich, ob sie auf solche Typen steht. Empfand sie so etwas als gutaussehend? Was war mit mir? Er war das komplette Gegenteil von mir.

      Aber mir war