Stephan Waldscheidt

Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen


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Mister Bailey eingezogen. Sie legt sich ins Bett, das neue, fremde Leben vor sich wie ein Ozean. Sie redet mit sich selbst. Erst mit ihrer großen, verloren geglaubten Liebe Christmas. Dann mit dem Mann, der sie vergewaltigt und entstellt und ihr Leben ruiniert hat, mit Bill. Bill ist auch dafür verantwortlich, dass sie Verbände trägt, die hier eine entscheidende Rolle spielen, um die Wandlung Ruths zu zeigen.

       »Gute Nacht, Christmas«‚ sagte sie leise und schloss die Augen.

      Mitten in der Nacht schreckte sie plötzlich aus dem Schlaf auf. Sie lief zur Eingangstür und schloss sie ab.

      »Verschwinde«‚ murmelte sie. »Verschwinde, BiII!« Ihre Stimme klang matt und verzweifelt. Schnell band Ruth das Lackherz um ihren Hals und kroch wieder ins Bett. Ich fürchte mich, dachte sie. Ich fürchte mich vor allem. Sie schloss die Augen und hoffte, möglichst bald wieder einzuschlafen. »Du hast dich auch vor Christmas gefürchtet, du dumme Gans«, sagte sie laut. Und da, zum ersten Mal nach all der Zeit, empfand sie so etwas wie Zärtlichkeit für sich selbst. Tränen traten in ihre Augen, aber es waren keine Tränen der Verzweiflung, sondern der Erleichterung.

      Endlich konnte sie sich annehmen.

      Ruth setzte sich auf, zog ihre Bluse aus und löste den Verband, der ihr die Brust abschnürte. Sie betrachtete die roten Druckstellen. Langsam, liebevoll streichelte sie darüber und ließ den scheußlichen roten Herzanhänger ihre Haut berühren. Dann sammelte sie die Mullbinden auf und warf sie in den Papierkorb. Zurück im Bett, zog sie die Bluse wieder an, und während sie mit Christmas’ Herz auf ihrer Haut in den Schlaf sank, stellte sie verwundert fest, dass sie ohne die beengenden Verbände wieder freier atmen konnte.

      Ja, Sie können die Veränderung dem Leser einfach erzählen. Aber das allein ist oft zu wenig, zu schwach. In dem Fall überlassen Sie es ganz dem Leser, ob er Ihnen glaubt oder eben nicht. Ergänzen Sie diese Methode durch weitere, konkretere.

      Hier im Beispiel ist das nur ein Satz eines inneren Monologs. Dieser zeigt noch Ruths altes ich. Das furchtsame Ich: Ich fürchte mich, denkt sie, ich fürchte mich vor allem.

      Erst in Kombination mit der Erzählung wird die Veränderung für den Leser erkennbar.

      Denkbar wäre es, den inneren Monolog auszuweiten, Ruth also noch eine Zeile nach der Veränderung zu geben. Ganz banal hier wäre etwa ein »Ich habe keine Angst mehr.«

      Eleganter wird es sofort, wenn Sie den inneren Monolog um einen äußeren Monolog ergänzen, Sie Ruth beispielsweise den Satz »Ich habe keine Angst mehr.« laut aussprechen lassen.

      Indem Sie den inneren Monolog in einen äußeren überführen, zeigen Sie die Veränderung: Das Neue ist lauter als das Alte. Das Neue ist wahrnehmbar, das Neue wird in die Welt gerufen.

      Statt in Monologen können Sie die Veränderung auch in einem Dialog zeigen. Was die Sache noch konkreter und eindringlicher macht.

      Christmas hat Ruth einen Anhänger in Herzform geschenkt, ein Schmuckstück, das Ruth scheußlich findet. Trotzdem trägt sie es. Er ist ein Symbol für (da wären Sie nie draufgekommen, ich weiß) ihre Liebe. Auch an diesem Symbol zeigt Autor di Fulvio Ruths Veränderung, sehr subtil, aber doch erfahrbar: Vor ihrer Veränderung trug Ruth den Anhänger. Danach erst lässt sie ihn ihre Haut berühren.

      Di Fulvio beschreibt Ruths Wandlung unter anderem in diesem Satz: Tränen traten in ihre Augen, aber es waren keine Tränen der Verzweiflung, sondern der Erleichterung.

      Stellen Sie dazu in Ihrem Roman zwei Zustände oder Ereignisse gegenüber. Je deutlicher Sie beides in Ihrer Beschreibung unterscheiden, kontrastieren, desto klarer kommt die Wandlung des Protagonisten beim Leser an.

      Der Königsweg, wie in vielen Fällen beim Schreiben eines Romans, ist der Weg über eine Tat, über Handlung. Die Veränderung angestoßen hat Ruth mit dem Weggang von daheim und dem Einzug in ihr eigenes Zimmer bei Mister Bailey und zugleich in ihr neues Leben.

      Diese Tat aber ist hier nur eine Vorbereitung der eigentlichen Veränderung, die gleichzeitig subtiler als auch eindringlicher auf den Leser wirkt.

      Die zentrale Handlung, die Ruths Veränderung zeigt, ist das Lösen des Verbandes, den sie seit ihrem schrecklichen Erlebnis mit Bill immer getragen hat. Di Fulvio macht das besonders greifbar: Der Verband hat Ruth »die Brust abgeschnürt«, was man auch symbolisch verstehen muss. Die Druckstellen, die bleiben, streichelt Ruth – ein Zeichen dafür, dass sie sich annimmt. Was eingangs nur erzählt wurde. Erst durch dieses Streicheln (eine Handlung) beweist der Autor, dass Ruth sich tatsächlich angenommen hat und dass die Annahme nicht bloß eine Behauptung oder Wunschdenken ist.

      Dass die Veränderung stattgefunden hat und wie sie sich auswirkt, erkennt der Leser im letzten Satz des Ausschnitts: Ruth kann ohne die beengenden Verbände wieder freier atmen. Ein neuer Abschnitt ihres Lebens hat begonnen. Für eine neue, veränderte Ruth.

      Das Beste: Der Leser war Zeuge dieser Veränderung. Er hat sie in verschiedenen Formen miterlebt und ist überzeugt: Ja, Ruth ist eine andere.

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      *) Akte! Das Wort erscheint immer so, im wahrsten Wortsinne, dramatisch. Falls Ihnen das lieber ist, nennen Sie die drei Akte doch einfach »Anfang«, »Mitte«, »Schluss« – und schon klingt das Geschichtenerzählen so simpel, wie es ist. Na ja, zumindest, was die Grobstruktur betrifft.

      He, Sie Gott, passen Sie auf, dass Sie nicht fallen — So planen und plotten Sie Ihren Roman richtig

      »Olympus has fallen«. Guter Titel. Und hat nichts mit fallenden Aktienkursen des Kamera-Herstellers zu tun. Sondern mit dem Weißen Haus in Washington, D. C., das von nordkoreanischen Terroristen eingenommen wird. Der Rest des Films ist so vorhersehbar und schlecht gemacht, dass man beinahe darüber lachen könnte (USA 2013; Regie: Antoine Fuqua; Drehbuch: Creighton Rothenberger, Katrin Benedikt). Aber immerhin wird viel geschossen und geblutet. Und die wunderbare Ashley Judd hat mal wieder eine (kleine) Rolle.

      Keine Sorge, das wird keine Erregung über miese Filme. Sondern darüber, wie Sie einen Roman planen und plotten.

      Mit den vielen Ungereimtheiten und Klischees will ich mich gar nicht erst abgeben, der Film war nicht mal in seiner miesen Qualität originell. Amüsiert habe ich mich über die Szenen in der Kommandozentrale, wo der amtierende Präsident (der eigentliche Präsi wird als Geisel im Bunker im Weißen Haus festgehalten) und sein Stab dem Helden im Weißen Haus dabei zuhören, wie er Heldenhaftes tut, und ihm sinnlose Befehle geben, denen er sich klugerweise widersetzt.

      So filmen Sie eine solche Szene: Richten Sie sich einen dunklen Raum mit Bildschirmen ein und setzten Sie ein paar Darsteller davor. Ja, genau so einen Raum, wie Sie ihn schon in hundert anderen Filmen gesehen haben. Füllen Sie den Raum beliebig mit irgendwelchen wichtig aussehenden Menschen weißer und schwarzer Hautfarbe, uniformiert oder im Anzug, viele Männer, ein paar Quotenfrauen, und gruppieren Sie sie um einen großen Tisch.

      Und dann geben Sie ihnen ein Drehbuch.

      Sorgen Sie dafür, dass sie sich an das Drehbuch halten. Egal, was für ein Mist da drinsteht.

      Wenn Sie Gefühle möchten – und sicher möchten Sie das, Gefühle gehören einfach zu einem Film (und natürlich auch zu einem Roman, dazu kommen wir noch) –, stellen Sie einen Assistenten hinter die Kamera, der große Tafeln mit gut lesbarer Schrift hochhält, auf denen beispielsweise steht »Bestürzung« oder »unbändige Freude/Joe: lauthals jubeln«.

      So ähnlich müssen bei »Olympus has fallen« die Szenen in der Kommandozentrale entstanden sein. Das Wichtigste waren natürlich die großen, gut lesbaren Tafeln, wie man sie aus TV-Shows kennt, auf denen dem Publikum signalisiert wird, wann es klatschen und wann es pfeifen soll.

      Ja, der Regisseur und / oder die Drehbuchautoren sind wohl keine Meister im Geschichtenerzählen.