Stephan Waldscheidt

Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen


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bewussten Lebewesens – wir alle hängen davon ab, ob meine Tochter am Leben bleibt, und davon, ihren Daemon und den Jungen von Metatron fernzuhalten?«

      »So ist es.«

      Lord Asriel seufzte, fast mit Befriedigung; es war, als wäre er am Ende einer langen und komplexen Berechnung angelangt, und hätte ein Ergebnis erhalten, das unerwarteterweise Sinn ergab.

      »Also gut«, sagte er und spreizte seine Hände auf dem Tisch. »Dann werden wir Folgendes tun, wenn die Schlacht beginnt. König Ogunwe, Sie werden das Kommando aller Armeen übernehmen und die Festung verteidigen. Madame Oxentiel, Sie werden Ihre Leute unverzüglich ausschicken, um nach dem Mädchen und dem Jungen und den beiden Daemonen zu suchen. Wenn Sie sie gefunden haben, verteidigen Sie sie mit ihrem Leben, bis sie wieder zusammengekommen sind.«

      Die abschließende Zielvorgabe fügt sich organisch ein, da es Befehle eines Anführers an seine Verbündeten sind.

      Gerade in spannenden Situationen erhöhen Sie die Spannung noch weiter, wenn Sie den Leser daran erinnern, was auf dem Spiel steht. Dabei dürfen Sie gerne dick auftragen, schließlich geht es um Dramatisierung, nicht um Zurückhaltung.

      Das kann in einem einzigen Satz geschehen, ohne die Handlung unnötig zu unterbrechen, wie hier in einem Gedankengang der Heldin Lyra aus »His Dark Materials«:

       Als sie die kleine Gruppe von Bäumen sahen, wussten Lyra und Will, dass ihre Daemonen darin waren und dass sie sterben würden, wenn sie nicht sehr bald bei ihnen waren.

      Das klare Aussprechen macht auch ein Hindernis auf dem Weg des Helden zum Ziel oder eine Bedrohung intensiver, durchschlagskräftiger.

      Wie hier im Dialog des Antihelden Leo in »Kind 44« die Drohung des Generals. Der Chef der Miliz warnt den ehemaligen Geheimdienstler und jetzt zum einfachen Milizionär degradierten Leo davor, sich in seine Ermittlungen einzumischen.

       »Wozu auch immer man Sie hierher geschickt hat, erinnern Sie sich daran, dass Sie nicht mehr in Moskau sind. Hier halten wir uns an eine Abmachung. Meine Leute sind sicher. Keiner von ihnen wurde je verhaftet oder wird je verhaftet werden. Falls Sie etwas tun, was meine Truppe in Gefahr bringt, falls Sie etwas in Ihren Bericht schreiben, was meine Autorität infrage stellt, falls Sie einen Befehl missachten, falls Sie eine Anklage aushebeln, falls Sie meine Offiziere als inkompetent darstellen, falls Sie irgendetwas Abfälliges über meine Männer sagen: Falls Sie eins dieser Dinge tun, werde ich Sie töten.«

      Mit dieser klaren Ansage endet das Kapitel. Der Katalog ist so vollständig, jede der Möglichkeiten eine eigene Drohung, dass der Leser mehr weiß als bloß ahnt, dass Leo mindestens einen dieser fatalen Fehler begehen wird.

      Wie langweilig wäre es gewesen, hätte der General lediglich gesagt: »Ich warne Sie, mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten ein. Sonst.«

      Dennoch, auch diffuse Drohungen und Unsicherheiten erfüllen häufig ihren Zweck. Am stärksten aber sind sie dann, wenn sie sich zu den klaren Bedrohungen hinzugesellen.

      Übrigens: Verwechseln Sie Ziele nicht mit Motiven. Motive sind Antriebe, also das, was einen Charakter erst dazu bringt, das Ziel zu verfolgen.

      Nicht jeder Antagonist muss oder sollte erklärt werden. Hannibal Lecters Kindheit, wie sie in »Hannibal« dargestellt wird, hat dem großartigen Schurken viel von seiner geheimnisvollen Aura genommen.

      Aber was ein Schurke will – eben sein Ziel –, das sollte klar sein, sofern es nicht bewusst als Geheimnis aufgebaut wird.

      Höchste Suspense kann nur dann entstehen, wenn das Ziel des Antagonisten und das des Protagonisten frontal aufeinanderprallen – oder, falls sie dasselbe Ziel haben, es nur einer von ihnen erreichen kann (dieselbe Frau heiraten, die Goldmedaille erringen, das letzte Stück Kuchen ergattern).

      Der Blutdurst der Zentauren — Wie Entscheidungen des Helden Ihren Roman besser machen

       Eva griff ihrem Pferd in die Zügel. Während Alban auf der Stelle stampfte und Dampf von seinem warmgerittenen Leib aufstieg, warf Eva einen Blick über die Schulter zurück. Dreizehn Zentauren in vollem Galopp wirbelten mehr Staub auf als eine ganze Herde Büffel. Sie hatte weniger als eine Minute Vorsprung vor ihnen und ihrem Blutdurst.

      Vor ihr gabelte sich der Weg. Der linke führte in ein lichtes Kiefernwäldchen, das kaum Verstecke verhieß. Der rechte ging steil bergauf zu einer Kuppe. Dahinter mochten hundert Möglichkeiten liegen, sich und Alban zu verbergen. Oder Meilen von offenem Land, Zentaurenjagdland. Hinter ihr schwoll das Donnern der Hufe an.

      Immer diese Entscheidungen. Warum sind sie im Roman so wichtig, ich möchte sogar sagen: so entscheidend? Ein paar Ideen dazu.

      Entscheidungen, genauer: anstehende Entscheidungen, sorgen für simple Neugier-Spannung: Wie wird die Entscheidung ausfallen? Wie hier im Beispiel. Das ist ihre offensichtlichste Aufgabe. Doch bei weitem nicht ihre einzige. Vor allem sind bedeutsame Entscheidungen für den Plot relevant.

      Jede Entscheidung schafft mindestens eine neue Wirklichkeit: die nicht gewählten Alternativen. Damit weitet jede Entscheidung den Roman, vergrößert die Welt, das Potenzial. Die Welt des Romans wirkt nicht wie eine Schnur – genau wie eine solche würde ein vorhersehbarer Plot erscheinen –, sondern wie ein sich immer weiter öffnender Fächer. Selbst wenn der Leser keinen Überblick über diesen Fächer hat, so spürt er ihn doch. Und zwar mit jeder Entscheidung, die ansteht und mit jeder Entscheidung, die getroffen wird. Mit jeder davon öffnet sich der Fächer des Romans weiter.

      Mehr Raum für Geschehnisse. Für Unvorhersagbares. Für Überraschungen. Mehr Raum für die Fantasie des Lesers. Für Suspense.

      Eine getroffene Entscheidung schafft eine parallele Wirklichkeit: Dieser nicht genommene Weg kann den Romancharakter im Verlauf der Handlung verfolgen. In Form von Bedauern, von Reue oder gar von Schuld.

      Entscheidet Eva sich beispielsweise für den Weg durch das Kiefernwäldchen und lenkt damit die Zentauren genau auf einen Trupp von fahrendem Volk, Menschen, die von den Zentauren abgeschlachtet werden, so wird Eva sich wünschen, sie hätte den anderen Weg genommen. Sie fühlt sich wegen ihrer Wahl schuldig.

      Mit jeder wichtigen Entscheidung, die ein Charakter trifft, gewinnt er an Tiefe. Er wird ein vollständigerer Mensch. Reife und Lebenserfahrung lassen sich auch dadurch definieren, wie viele wichtige Entscheidungen man in seinem Leben getroffen hat. Eine Romanfigur, die viele Entscheidungen hinter sich hat, wirkt entsprechend vollständiger, reifer und erfahrener.

      Aber nicht nur das: Die Figur belädt sich mit jeder Entscheidung mit mehr Potenzial: potenziellem Bedauern, potenzieller Schuld, potenziellen Fehlern und so weiter. Ihnen als Autor eröffnet sie dadurch mehr Möglichkeiten. Sie haben mehr Punkte, an denen Sie ansetzen können, um den Charakter von seinen Entscheidungen einholen zu lassen, ihn die Konsequenzen seiner (Un-)Taten spüren zu lassen.

      Im Beispiel oben könnte so ein Punkt ein Kind aus dem fahrenden Volk sein. Es hat das Gemetzel der Zentauren überlebt und gibt nun Eva die Schuld daran. Das Kind wächst heran und spürt Eva auf, um Evas Familie zu töten – ein Racheplot.

      Jede Entscheidung bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Leser zu überraschen. Der Charakter entscheidet sich eben nicht so wie erwartet. Je mehr Entscheidungen er schon hinter sich hat, desto stärker kann die Überraschung ausfallen.

      In unserem Beispiel hat Eva sich stets für Wege entschieden, die an Wäldern vorbeiführten, denn sie fürchtet sich vor Wäldern. Ihre Wahl für den Weg ins Kiefernwäldchen muss den Leser überraschen.

      Gleichzeitig werden selbst überraschende Entscheidungen glaubhafter. Weil der Leser den Charakter als tiefere Person kennengelernt hat, traut er ihm bei jeder