Stephan Waldscheidt

Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen


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Ihre Aktionäre reich zu machen. (Ist ja auch okay.)

      Im Roman aber sollte der böse Konzern Froopple etwas Konkretes zum Ziel haben. (Nein, die Weltherrschaft ist ebenfalls nichts Konkretes.) Sagen wir, Froopple will jedem Menschen einen Chip ins Hirn pflanzen und seinen Dienst BrainViewTM zur Standardsoftware für sieben Milliarden Menschen machen. Froopples Hintergedanke: Mit dem Chip lassen sich die Menschen steuern und werden drei Mal täglich dem Chef von Froopple auf Knien huldigen. (Zugegeben, ein idiotisches Ziel, aber wer sagt, dass gewaltige Macht nur von intelligenten Leuten ausgeht?)

      Der Vorteil konkreter Ziele sowohl beim Helden wie auch beim Gegenspieler: Sie lassen sich leicht vom Leser auf Erreichen oder Nicht-Erreichen prüfen. Der Leser sollte jederzeit abschätzen können, wie nahe Held oder Schurke seinem Ziel ist.

      Schreibtipp am Wegesrand: Dieses Abschätzen bietet Ihnen eine gute Gelegenheit, den Leser in die Irre zu führen. Das Ziel scheint für Ihre Heldin zum Greifen nah! Doch, ätsch, Irrtum, da kommt noch eine Biegung und noch ein Hindernis und das ist größer als alle anderen.

      Entscheidend bei der Konkretisierung eines Romanziels ist: Machen Sie dem Leser unmissverständlich klar, was dieses Ziel ist. Vornehme Zurückhaltung, Subtilität oder tief verborgener Subtext sind hier fehl am Platz. Der Leser muss genau wissen, worum es geht: sieben Milliarden Menschen auf den Knien, und zwar Punkt zwölf Uhr mittags. Zack! Und nicht vielleicht auch drei Milliarden auf dem Bauch, eventuell auch erst um Viertel nach. Vielleicht aber auch nicht, siebzehn im Spessart, aber nur bei Regen, und alle mit grünen Shorts dürfen, wenn sie möchten, Käsekuchen bestellen. Vielleicht. Vielleicht waren das mit dem Käsekuchen aber die mit den roten Shorts. Schwarzwälder Kirsch? Braune Schuhe? Hä?

      Ja, so sehen leider ziemlich viele Romane aus, häufig der erste. Aber nicht Ihrer, nicht mehr.

      Haben Sie keine Angst vor Klischeesätzen wie »O mein Gott, die Aliens sind morgen Abend um halb neun am Hauptbahnhof! Wir müssen sie mit der tödlichen neuen Gulaschkanone des BMV (Bundesministerium für Verteidigung) aufhalten, weil sie sonst unser gesamtes Speiseeis als Raumschifftreibstoff mitnehmen!«

      When in doubt, spit it out – Diese erste Regel zur Vorbeugung von Vergiftungen dürfen Sie auch bei den Zielen Ihrer Charaktere beherzigen: Wenn Sie Zweifel haben, ob Sie zu indirekt über diese Ziele schreiben, spucken Sie’s lieber aus, sprich: Sagen Sie es Ihren Lesern!

      Mein Tipp: In der Rohfassung sollten Sie solche Sätze wie den mit den Aliens verwenden, damit auch Sie selbst beim Schreiben auf das konkrete Ziel fokussiert sind. Bei der Überarbeitung schmeißen Sie das Klischee raus, aber lassen die Klarheit und Unmissverständlichkeit drin.

      Klar?

      __

      *) Wer den Subtext aus diesem Satz herausgelesen hat, der nichts anderes sagt als »Seht her, was bin ich doch schlau« gewinnt meine Hochachtung und die Bitte, diese eitle Selbstbeweihräucherung von mir nicht weiterzuerzählen.

      Unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen die Daemonen finden — Warum Sie Ziele und Bedrohungen aussprechen sollten

      Die oben angesprochenen unscharfen Ziele der Charaktere plagen insbesondere die Romanplots unveröffentlichter Autoren. Außerdem ändern sie sich häufig, was aber ein anderes Thema ist.

      In den meisten Fällen fehlen den Charakteren konkrete Ziele, weil der Autor selbst nicht weiß, wohin er sie schicken will. Was ein weiteres Argument dafür ist, einen Roman zumindest grob zu planen. In diesem »grob« steckt eben auch das Festlegen der Charakterziele.

      Noch einmal und weil es so entscheidend ist: Das Problem ist nicht trivial. Im Gegenteil. Mit der eindeutigen Bekanntmachung der Ziele eines Charakters steht und fällt ein Roman, denn die Bindung des Lesers an die Geschichte hängt in starkem Maße davon ab, ob er genau weiß, was die Charaktere vorhaben. Vor allem die Ziele des Helden und seines Gegenspielers sollten unmissverständlich und konkret sein. Nur, wenn der Leser diese Ziele kennt, kann er mit dem Charakter mitfühlen und sich wünschen, der Held möge triumphieren, der Gegenspieler scheitern.

      Es ist ein großer Unterschied, ob ich nur hoffe, dass meine Lieblingsmannschaft ein schönes Spiel macht und dabei niemand ernstlich verletzt wird. Oder ob ich sie anfeuere, sie möge den Gegner in Grund und Boden schießen und mit mindestens drei Toren Unterschied gewinnen, denn nur dann kommt sie ins Finale.

      Unscharfe Ziele färben auf alles andere im Roman ab. Wenn dem Leser unklar ist, was die Heldin will, werden ihm auch viele andere Dinge unklar bleiben. So weiß er beispielsweise nicht, wie er ein bestimmtes Hindernis einschätzen soll, dass Sie der Heldin in den Weg werfen. Ein Wassergraben mit Krokodilen, der auf der Straße nach Süden lauert, mag ein ernsthaftes Hindernis sein. Er stört die Heldin jedoch wenig, wenn ihr Ziel am Ende der Straße nach Norden liegt. Eine geheimnisvolle Bemerkung über die Kindheit der Mutter der Heldin interessiert die Heldin wenig, wenn sie sich auf die Suche nach der Kindheit ihres Vaters macht.

      Ein unscharfes Ziel kann auch eins sein, das zu abstrakt ist, um den Leser zu fesseln. Oder den Zuschauer, wie in »Man Of Steel« (USA 2013). Dort kämpft Superman am Ende nicht darum, das Leben eines bestimmten Menschen zu retten – er will die gesamte Menschheit retten. Das mag auf den ersten Blick wie ein milliardenfach vergrößertes Ziel aussehen. Tatsächlich aber lässt es den Zuschauer unberührt, weil er dieser abstrakten Gesamtheit von Menschen keine Emotion entgegenbringt. (Als kleiner Hinweis auf zu große Abstraktheit fungiert, wie in Menschheit, die Endung -heit.) Anders wäre es, wenn Superman konkret Lois Lane retten würde – zu der der Zuschauer im Lauf des Films einen emotionalen Bezug aufbauen konnte.

      Natürlich gibt es Fälle, wo der Autor absichtlich ein Geheimnis aufbaut, wo er den Leser im Dunkeln tappen lässt, wo es um Verschwörungen und Vergleichbares geht. Sie bestätigen die Regel. Meistens nämlich ist das ausgesprochene Ziel das wirkungsvollere, das mächtigere Mittel zur Erzeugung von Spannung und Suspense.

      In einem Krimi etwa ist es normal, dass der Ermittler nicht weiß, wer der Mörder ist. Dennoch sollte sein Ziel, diesen noch unbekannten Mörder zu ermitteln, ganz klar sein und ganz oben auf seiner Prioritätenliste stehen. Wenn der Ermittler zwischenzeitlich von dieser Mördersuche abkommt und gegen einen verfeindeten Kollegen einen Privatkrieg ausficht, sollte es relevante erzählerische Gründe dafür geben und das alte Ziel, die Mördersuche, irgendwann wieder in den Vordergrund treten.

      Ein unscharfes Ziel lässt den Leser vor allem eins glauben: Die Sache ist dem Charakter nicht wichtig genug.

      Diese Meinung ist der Tod Ihres Romans.

      Romane wie die »His Dark Materials«-Trilogie von Philip Pullman (Ballantine 2000 / eigene Übersetzung) oder der Nachkriegsthriller »Kind 44« von Tom Rob Smith (Simon & Schuster 2008 / eigene Übersetzung) wurden auch deshalb internationale Bestseller, weil die Leser auf jeder Seite wussten, was die Helden erreichen wollten oder erreichen mussten.

      Gerade in komplexeren Geschichten oder in Romanen, in denen die Grundvoraussetzungen oder die Welt an sich dem durchschnittlichen Leser fremd sind, wird das Aussprechen des Ziels essenziell. Nehmen Sie Fantasy, SF, Horror oder etwa die Darstellung dem Leser unbekannter Gesellschaften (Beispiel: urtümliche Stammesbeziehungen in Westafrika, Konflikte zwischen Schülern einer Scientologenschule). In solchen Fällen geben Sie Ihren Lesern mit einem konkreten Ziel einen wichtigen Anker in der für sie fremdartigen Umgebung.

      Beim Lesen stört es denn auch keineswegs, wenn Lord Asriel, ein wichtiger Charakter aus »His Dark Materials«, im dritten Band nach einer Debatte sagt:

      »Unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen die Daemonen finden, bevor er [der Gegenspieler] sie findet und für ihre Sicherheit sorgen, bis das Mädchen und der Junge wieder mit ihnen vereint sind.«

      Anschließend fasst Lord Asriel das Problem zusammen, aus dem sich das Ziel ergibt. Auch das sollte unmissverständlich klar sein.