Caspar Keller

Parallelleben


Скачать книгу

akustische Gewalt lässt nach. Das Wummern verhallt bis zu seiner sich entfernenden Ahnung. Einen Moment braucht das Echo im Hof noch, dann ist es abgeklungen.

      „Was zur Hölle war das?“, rufe ich geradewegs heraus.

      Herr Bartsch deutet dahin, wo die Kolonne sich hin verflogen hat, schaut zu mir, stochert deutend mit Zeigefinger in die Luft, schaut wieder zu mir, bekommt nicht gleich einen Ton raus, aber platzt schier vor Freude. „Das…das ist unsere Rettung! Das ist, wie sie es gesagt haben.“

      „Wer? Ich? Was?“

      „Im Staatsfernsehen, die Regierung, die geben nicht bei, halten fest, jetzt mobilisieren sie sich, rüsten sich zum letzten Gefecht. Das sind die Experten.

      Von Tegel auf dem Weg zum Kanzleramt.“

      „Aber Tegel ist doch geschlossen.“

      „Ha! Nicht für unsere Eingreif-Elite. Jetzt schlagen sie zurück. Alles wird gut. Ach, bin ich froh! Das muss ich meiner Frau erzählen.“ Er rennt mit erhobenen Armen, die er immer wieder in die Luft stemmt, die Hände zu Fäusten geballt, davon und quiekt dabei vergnügt.

      Ein glücklicher Junge, der stolz die frohe Kunde nach Hause trägt. Ich schau ihm amüsiert nach.

      Wir waren auch glücklich, Katharina und ich, als wir vor fünf Jahren den Schritt zum radikalen Neuanfang wagten, die bürgerliche Idylle der Quadrate-Stadt Mannheim abstreiften, ausgezogen in der pulsierenden Metropole Berlin das Leben zu lernen. In Mannheim studierte Katharina an der Musikhochschule Tanz. Im Jahr 2004 lernten wir uns kennen. Sie absolvierte ihr Abschlussjahr zur klassischen Balletttänzerin. Ich war angehender Jurist und stand wenige Wochen vor meinem Examen. Und es war Zufall, ein glücklicher Moment, ein gewagter Schritt, dass wir aus so völlig verschiedenen fachlichen Welten überhaupt zusammenkamen, nachdem sie mir innerhalb kürzester Zeit das zweite Mal über den Weg gefahren war, sie auf ihrem pinken Damenrad, ich ihr daraufhin zunächst bis zum Bahnhof gefolgt war und, nachdem sie mit einem ICE Richtung Stuttgart davongefahren war, ich zwei ganze Din-A4-Rückseiten aufgelesener Werbeblätter der Bahn volltexte, darüber schrieb, wie ich heiße, wer ich bin, was ich mache und dass sie mir aufgefallen war und jetzt schon wieder und ihre Bewegung, ihr Gang, ihr Wesen von Grazie, Eleganz und Sinnlichkeit herrühren, dass, wenn sie kein Deutsch kann, ich auch Englisch spreche, hatte meine Handynummer, E-Mail und Anschrift hinterlassen und die Seiten gefaltet und in ihren Fahrradkorb gelegt.

      Zwei Tage später, ich saß gerade im juristischen Repetitorium, bekam ich ihre SMS. Ich rief sie in der nächsten Pause an. Wir flirteten und verabredeten uns für abends im CafeO. Für Katharina war es Schicksal.

      Für mich war es, was ich richtig gemacht habe im Leben. Es ist doch so: für Smileys, für die Versetzung, für das Abitur, für das Examen, für gute Noten, für sehr gute Noten, für summa cum laude, für das Auslandssemester, für den Doktortitel, für den MBA, für verhandlungssicheres Englisch und Russisch und Chinesisch, für Pluspunkte, für politisches Engagement, für soziales Engagement, für So-tun-als-ob, für einen Bürojob, für den Top-Job, für Einer-von-vielen, für die Karriereleiter, für Reputation, für Geld – für all das wissen wir frühzeitig zu lernen, uns zu messen, uns anzustrengen. Über die Liebe ist weithin nichts bekannt. Mit der Pubertät ist Liebe Porno. Später ist Liebe der Einfachheit wegen jemand von der Schule, der Uni, der Arbeit. Liebe ist Casual Sex. Liebe ist Bindungsangst. Liebe ist Angst vorm Alleinsein. Aber, wenn es darum geht, den einen richtigen Menschen zu treffen, den einen richtigen Moment abzupassen, sein eines Leben richtig zu leben – Fehlanzeige: „Sorry, aber das mussten wir in der Schule nicht auswendig lernen“.

      Herr Bartschs spontaner Ausdruck von Freude hebt meine Stimmung. Das ist was wir brauchen, mehr frohe Momente. Frohe Weihnachten mal ganz anders

      – wahrhaftig. Ich lasse es zu und halte es selbst für möglich, dass alles wieder so werden kann wie vor fünf Jahren. Beschwingt mache ich mich auf den Weg zur U-Bahn.

      Was mir sofort um die nächste Ecke auffällt: Es ist was los auf der Reinickendorfer Straße. Verkehr wie üblich. Auf dem Gehweg begegne ich Passanten. Drei türkische Jugendliche, die sich am Fenster eines Ladens für Krimskrams ihre Nasen platt drücken. Zwei türkische Mütter, mit Kopftuch, Kinderwagen vor sich herschiebend, jeweils weitere Kinder, jeweils Junge und Mädchen, jeweils rechts und links. Ich gehe ganz außen. Ein untersetzter, bulliger Araber, breites Gesicht, kurz geschorenes Haar, zeitweise rechts und links schauend, wartend, ein Handy in der Hand, zweites Handy in der anderen Hand, drittes und viertes Handy in den Gesäßtaschen. Auf Höhe Weddingplatz stimmt ein Autokonvoi ein Hupkonzert auf die Freuden eines türkischen Hochzeitspaares an.

      Als das Brautpaar vorbeifährt, kommt der Verkehr zum Erliegen. Bei heruntergelassenem Fenster schaut die Braut zu mir herüber. Sie lächelt verhalten, bewegt ihre schmale, in weiße Spitze getauchte Hand „queenlike“ mit zurückhaltender Geste.

      „Gümrük ödenmis? (Zoll bezahlt?)“, rufe ich mit sichtbarem Schmunzler.

      Doch das verunsichert die Braut nur noch mehr, woraufhin sie den Bräutigam konsultiert. Der streckt mit breitem Grinsen halbwegs seinen Kopf aus dem Fenster: „Ey, schon bezahlt, Mann.“

      „Tebrikler! (Alles Gute!)“, sage ich noch, da setzt sich der Hochzeitskonvoi auch schon wieder in Bewegung.

      Der Bräutigam streckt den Daumen in die Luft und taucht im Fond wieder ab. Kurz bevor ihr Wagen um die nächste Ecke verschwindet, schaut die Braut noch mal, winkt und zeigt dabei alle ihre hübschen Zähne.

      Es kommen mir drei lange Deutsche in ihren Urban-Outdoor-Jacken entgegen, beim Vorbeigehen schnappe ich ihre Worte auf: „Clara…Date…geil“.

      Ich denke mir nur: Clara, das Flittchen! Handwerker stehen am Imbissstand, das Tagespensum Bier anpeilend. Ich treffe auf die Müllerstraße. Es brummt, gurkt, Auspuffe rasseln. Auf den Stufen hinunter zum Bahnsteig U-Bahn „Reinickendorfer Straße“ kämpfe ich gegen einen starken Sog an, der mit Erreichen des Bahnsteigs spontan nachlässt. Der Blick auf die Anzeige kündigt den nächsten Zug in einer Minute an. Ich passiere eine Gruppe Straßenmusikanten, Roma, halten Geige, Akkordeon, Klarinette im Anschlag. Fast schon erreiche ich das andere Ende der Station, da fährt der Zug ein.

      Im Zug herrscht eine gespenstische Atmosphäre, wie schon seit Tagen, Wochen. Seit dem Tag der Unruhe, als die Uhren schneller tickten, die Arbeit hastiger erledigt wurde, die Menschen sich nicht mehr ausreden ließen. Dann verstummten sie und sind fortan auf ihre technischen Geräte fixiert.

      Hier im sprichwörtlichen Untergrund zeigt sich die Veränderung, der Wechsel vom Menschen zum User, deutlich. Ich kann durch den ganzen Zug schauen. Ein hundert Meter langer Tunnel. Wenn ich hineinschaue und der Zug schlängelt sich durch den Märkischen Boden Berlins, haucht es ihm Leben ein, wird zum Körper eines verwunschenen Drachen, dessen Schwanzende hin und her schlägt. Gezähmte Mobilität im Drachen-Express. Als Betriebsmittel hier und da eine Touristengruppe, französisches Baguette, spanischer Serrano-Schinken, italienische Pasta. Im Innern ist noch viel Platz. Der Drache muss in diesen Tagen auf Touristen verzichten. Stattdessen sitzen rechts und links die User. Sie sitzen nebeneinander, in Reih und Glied, ziehen sich wie vom Fließband bis zum Ende. Tragen voluminöse Kopfhörer auf den Ohren, verstöpselt mit ihren technischen Geräten, befinden sich im Tunnel, in Abwesenheit, im Zustand völliger Aufgabe der Teilhabe am Leben um sie herum. Wie willensfremd stehen manche auf, ohne Aufzuschauen, ohne Mienenspiel, ohne Gefühlsregung. Andere nehmen deren Platz ein.

      „Somewhere Over The Rainbow“ dringt als sehnsuchtsvolle Interpretation gefühlvoller Geige, klangvoller Klarinette und wimmerndem Akkordeon aus der Tiefe des Körpers an mein Ohr. Die Straßenmusikanten spielen für sich.

      Zwei Stationen später verlasse ich den Zug. Ich nehme den vorderen Ausgang, zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, stehe ich auf der Chausseestraße, Kreuzung Invalidenstraße. Am Café vorbei, um die Ecke, vorbei am Kiosk und ich bin da.

      „Morgen!“, rufe ich, wie ich durch die Tür stiebe.

      Das Büro liegt im ersten Stock eines Neubaus, hochgezogen allein für Gewerbe, in den Neunzehnhundertneunzigern New Economy, zu Beginn des einundzwanzigsten