Caspar Keller

Parallelleben


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Er stiert auf seinen Flachbildschirm.

      Ich gehe in mein Büro, das auf Seiten der Invalidenstraße liegt und reiße die Fenster auf. Ordentlich was los unten auf der Straße. Einen Moment lasse ich durchlüften, derweil statte ich meinem Kollegen einen Besuch ab.

      „Sonst wer da?“, frage ich Lennart.

      Anfang vierzig, seine Größe ist nicht sein Aushängeschild, surfblond gefärbtes, kurzes, zerzaustes Haar, gewollt „Out-of-bed-Look“, vom Beachvolleyball-Camp auf Mallorca erhaltene Sonnenbräune, gebleachte Zähne, Timberlands, Jeans, Funktions-Fleece-Pullover. Er schaut, antwortet aber nicht, sein Blick geht leicht an mir vorbei, sein Antlitz hellt sich etwas, er sucht davon abzulenken, dreht sich auf seinem Bürostuhl um die eigene Achse, klatscht in die Hände und zieht während seines Drehers die Worte nach sich: „Da sein ist relativ.“

      In dem Moment halten mir zwei kalte Hände von hinten die Augen zu. Und eine übertrieben weiblich-laszive Stimme flüstert: „Also ich bin schon gekommen.“

      „Bei deinen kalten Händen weiß ich, wo das Blut hin ist“, konter ich, greife meiner Kollegin an ihre Handgelenke und befreie mich.

      „Hey, das ist ein anständiges Büro, nimmt bitte Rücksicht auf die, die hier arbeiten“, mischt Lennart mit.

      „Ach, auf einmal“, neckt Meike zurück.

      Sie bevorzugt für sich den Namen „Like“, Ende Zwanzig, groß, schlank, kurvig, langes brünettes Haar - ihr einziger Makel, wie sie selbst sagt.

      „Leute, ich für mein Teil hab schon was getan. Heute Morgen habe ich einem Brautpaar auf altmodische wie moderne Art Freude bereitet, indem ich…“

      „Sie gefickt hast und er durfte dabei zusehen. Ja, das mach ich auch gerne“, unterbricht mich Meike.

      Ich signalisiere ihr mit zuschnappender Hand, dass sie die Klappe halten soll.

      „Indem ich sie nach dem Wegezoll fragte.“

      „Hä! Was ist das denn für ein Scheiß?“, kommt es von Meike.

      Sie hat sich auf die Tischplatte von Lennarts Beratungstisch gesetzt, trägt eine superenge schwarze Röhrenjeans, dazu hohe Stiefel, die Schenkel gespreizt.

      „Kennt ihr das nicht, okay, ich muss dazu sagen, es war eine türkische Hochzeit. Es hat Tradition das Brautpaar anzuhalten und ihnen Wegezoll abzuknöpfen. Das bringt Glück.“

      „Fragt sich nur für wen. Bestimmt nicht für deren Geldbeutel“, kommentiert Meike trocken.

      „Es geht um den Symbolgehalt, Tradition, Glaube“, versuche ich zu überzeugen.

      „Hochzeit wird überbewertet“, sagt Lennart nur.

      „Dito“, stimmt Meike dem zu. „Wisst ihr aber, was krass ist? Ich habe krass viele E-Mails von Kunden, die sich um ihr Geld sorgen. Ist das nicht geil?“

      „Was ist daran gut?“, frage ich schnippisch wegen Übergehens meiner Geschichte.

      „Na, keine Akquise heute, du Dummerchen. Die Kunden selbst servieren sich auf dem Silbertablett. Ich klapper die Kunden ab, erzähl ihnen sonst was und verkaufe ihnen, haltet euch fest, die Versicherung zur Versicherung.“

      „Wie soll das gehen?“, frage ich noch immer angesäuert.

      „Wenn sie keine Lebensversicherung haben, gibt’s die von mir und heißt dann 21.12.12-Verlustschutz-Versicherung. Wenn sie keine Berufsunfähigkeitsversicherung haben, gibt’s die von mir und heißt dann…?“ Sie guckt uns beide an, mit gespitzten Lipgloss-Lippen deutet sie die Antwort an, dabei kreisen ihre schlanken Hände vor und zurück auf Höhe ihrer Brüste, die sich unter einem hautengen schwarzen Rollkragen-Longsleeve abzeichnen, und was wie ein doppelter Anreiz anmutet. „Richtig, 21.12.12-Verlustschutz-Versicherung. Sehr gut, Jungs.“

      Lennart und ich gucken einander an.

      „Wenn sie keine Rechtsschutzversicherung haben, gibt’s die von mir und heißt…“

      „21.12.12-Verlustschutz-Versicherung“, beenden wir im Chor.

      Sie rutscht vom Tisch. „So, jetzt muss ich aber mal für Pussys“, unterrichtet sie uns, stolziert zwischen uns hindurch und verlässt das Zimmer.

      „Heute Abend ist eine Like-Party“, verrät mir Lennart. Und wir stutzen über denselben Gedanken, doch Meike ist schon in der Toilette verschwunden.

      „Motto-Party“, verbessert Lennart zur Vermeidung von Verwechslungen, „Multi

      & Media lädt ein.“

      „Was ist das Motto?“

      Er wendet sich seinem Bildschirm zu, bewegt die Maus, klickt, schaut, klickt, scrollt, klickt. „Mach’s gut und danke für den Fisch“, liest er und lässt sich in seinem High-End-Bürostuhl energisch nach hinten fallen, die Sitzfläche passt sich seiner Bewegung an, die Füße heben ab und er hängt um fünfundvierzig Grad gekippt im Stuhl, bereit ins All geschossen zu werden.

      „Das ist ein Buchtitel“, trotze ich der Situation, „von Douglas Adams.“

      „Wer weiß, vielleicht kommt der auch!“, merkt er noch an, doch bereits geistig abwesend, konzentriert auf die Funktionalität seines Raketenstuhls.

      Zehn, Neun, Acht. Der Countdown zählt bereits runter. Lennart rutscht auf dem Sitz hin und her.

      Sieben, Sechs, Fünf. Er nimmt letzte Sitzkorrekturen vor, bedient die Armlehnen wie Schalttafeln.

      Vier, Drei, Zwei. Er streckt die Beine in die Luft.

      „Der ist tot!“, unterbreche ich seine Startphase in letzter Sekunde.

      Lennart lässt ab von seinem gewagten Unterfangen, als erster Raumreisender mit eigenem Bürostuhl in die Geschichte der Raumfahrt einzugehen, kippt mit geübtem Schwups den Stuhl in die aufrechte Position, zupft sich seine Strähnen gerade, sitzt dann entspannt, zu mir gewandt: „Da hat er uns was voraus!“

      Trotz der soeben gesehenen kuriosen Szene bleibe ich ernst.

      „Aber du weißt schon, was ich von Multi & Media halte?“, frage ich ihn.

      Lennart macht einen minimalen Hüpfer auf dem Stuhl, reißt die Arme in die Luft, lehnt sich nach hinten und guckt mich mit einem offen-zynischen „O“ an.

      Unter Lennarts Führung hatte ich vor fünf Jahren als Versicherungsverkäufer angefangen. Viel mehr hatte es damals nicht gebraucht, glücklich zu sein. Katharina und ich fanden unser Zuhause in Berlin-Wedding.

      Eine Altbauwohnung mit achtzig Quadratmetern, drei Zimmern, zwar mit Gas-Etagenheizung und ohne Balkon, dafür aber mit drei Meter vierzig hohen Decken, renoviertem Bad und neuer Küche, mit Kaminöfchen für gemütliche Stunden zu zweit und einer liebevollen alten Dame als Eigentümerin. Im Juni waren wir eingezogen, im November hatte ich den Job. Auch wenn der nicht meiner ersten Wahl entsprach, konnte ich der Arbeit für einen weltumspannenden Versicherungskonzern von Anfang an etwas Gutes abgewinnen. Er verschaffte mir Einblicke in die Finanzwelt. Schnell waren für mich Versicherungen die tragendenden Elemente eines, wie ich es nannte, Finanzwerkhauses. Das war mein Anspruch an die vernünftige Koexistenz von Mensch und Versicherung.

      Dass die Realität von Konzernvorgabe, unerbittlichem Wachstum, Vertrieb und menschlicher Schwäche so weit entfernt der Wahrheit liegt, weiß ich erst heute. Doch wählerisch durfte ich nicht sein. Zu viele Absagen aus den Bereichen Beratung, Handel, Personal gaben mir zu verstehen, dass ich nicht gut genug war, dass ich mich in Schule, Universität und Freizeit nicht genug qualifiziert hatte, dass ich keiner von ihnen war. Die Fach- und Führungskräfte aus den jeweiligen Personalmanagements suchten verzweifelt nach sich selbst in meinem Lebenslauf. Doch sie überforderten sich beim Pressen meiner Persönlichkeit in ihren Schematismus. Ich war ihnen strikt zu unkonventionell. Mathematisches, künstlerisches Abitur, Militär, sportliche Auszeichnungen, absolviertes Jurastudium, zwei Jahre juristische Praxis, gescheitertes Anwaltsexamen, Auszeichnung als Projektleiter zur Umsetzung von