Caspar Keller

Parallelleben


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Das wäre in der seichten Form auch so weiter gegangen, wenn „Bekannt und Bewährt“ nicht für die Finanz- und Wirtschaftskrise gesorgt hätte.

      „Ouuh“, dehnt Lennart an diesem Morgen mehr als sonst seinen Gesichtsausdruck.

      „Was nur spricht für die Globalisierung der Welt außer Fortschritt? Dass sie zukunftsweisend ist? Alle Interessen zusammenführt? Einfachheit des Lebens bedeutet? Was habe ich vergessen?“

      „Heterogenozid!“, sage ich.

      Lennart erstarrt. Sein „O“ ist ihm gründlich aus dem Gesicht gewischt. Er prüft mit Blick zur Tür, ob auch niemand zuhört. Dann schaut er mich verständnislos, fast maßregelnd an, bewegt seine flache Hand horizontal zum Tisch bedächtig rauf und runter, signalisiert mir, dass ich mich besänftigen soll.

      „Was redest du da? Das geht doch nicht! Weißt du, was du da redest?“ In seiner Stimme schwingt etwas besorgt Hysterisches mit, gleichzeitig versucht er die Situation verhaltend konspirativ zu meistern.

      „Hilf mir auf die Sprünge!“, sage ich nur von ihm amüsiert.

      „Wo hast du das her, das mit Heterogenozid?“, fragt er.

      „Lennart! Dir geht’s doch nicht um eine bloße Wortfindung! Also warum erschreckt dich meine bloße Behauptung über…, über was sprechen wir…, einen weltumspannenden Ring von zweifelhaften Botschaften und leeren Versprechungen und Handel und Konsum?“

      „Wir sprechen darüber, dass Mutter Teil davon ist. Damit sind wir auch Teil davon. Wie du dir vorstellen kannst, macht sich das deiner Karriere nicht gut, wenn du nicht Mutters Philosophie teilst.“

      „Teilen, Teilen, Teilen!“, wiederhole ich, „nur, dass „teilen“ nichts mehr gemein hat mit seiner einstigen Bedeutung. „Teilen“ steht heute nur noch vordergründig für sozial, engagiert, interessiert. Aber nichts davon ist wahr! Tatsächlich spaltet sich die Persönlichkeit und verliert sich. Die Folge: Gemacht wird, was alle machen. Konsumiert wird, was alle konsumieren. Gedacht wird, was alles denken. Weißt du, wie man das nennt? Homogenität! Gleichschaltung! Hirntod! Gehen vielleicht diese Bezeichnungen konform mit der Unternehmensphilosophie? Werde ich damit zum Verkäufer des Monats? Scheiß drauf! Ich mach nicht mit beim Heterogenozid!“

      Stille.

      Wir hören Meike, wie sie den Moment aus der Damentoilette tritt. Sie pfeift die Filmmelodie von „Twisted Nerve“ von Roy Boulting, mit der Musik von Bernard Herrmann, besser bekannt auch aus „Kill Bill“ von Quentin Tarrantino. Ein hoher schriller Pfeifgesang. Sie tritt durch die Tür und hält inne, ihr Pfeifen erstirbt.

      „Was ist hier los? Ihr werdet doch nicht gelauscht haben, wie ich in die Keramik geplätschert hab, oder?“

      „Sag mal, Meike, sagt dir Heterogenozid etwas?“, stellt Lennart ihr ohne Umschweife die Frage.

      „Äh, was? Hetero…? Also wenn ihr mich nach meinen sexuellen Vorlieben fragt, ich steh auf alles!“

      „Nun, Meike, es gab vor nicht allzu langer Zeit ein dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte“, holt Lennart aus. „Vor siebzig Jahren fand der Massenmord an den deutschen und europäischen Juden durch die Nationalsozialisten statt!“

      „Ach so, Genozid, ja, jetzt weiß ich, was du meinst! Nein, das mag ich wiederum nicht.“

      „Kannst du dir vorstellen, dass Multi & Media so etwas mit uns macht?“

      Meike wechselt ihre Pose von leicht vorgebeugt mit engstehenden Beinen zu leichter Rückenlage mit rechtem Standbein, ihr rechter Arm in die Seite gestemmt. „Multi & Media sind Nazis?“, fragt sie skeptisch.

      „Angenommen Multi & Media sind keine politisch motivierten Nazis“, führt Lennart aus. „Angenommen Multi & Media wollen nur die marktbeherrschende Stellung in der Welt in den Bereichen…Konsum. Würdest du sagen, das ist so etwas wie…“, er schaut zu mir, nickt dabei seine Wortwahl ab, sodass ich ihm mein Okay signalisieren möge - ich verdreh nur die Augen -, „…die Beseitigung…der Vielfalt…unserer persönlichen Vorlieben?“

      „So ein Quatsch! In der Uni haben wir gelernt, dass alle Veränderung allein aus dem Konsumentenverhalten selbst resultiert. Sie entspricht dem Wunsch des Verbrauchers selbst. Noch nie zuvor konnte jeder auf alles jederzeit zugreifen.

      Multi & Media dient als Abbild seiner selbst dem User allein.“

      „Wann wurde der Begriff des Verbrauchers ersetzt durch den des Users?“, hake ich ein.

      Meike dreht den Kopf zu mir und tadelt mich mit einem affektierten Augenaufschlag, als hätte ich zwei Erwachsene unterbrochen. „Was meinst du?“, ziert sie sich schwerfällig.

      „In der Universität hast du den Begriff des Verbrauchers gelernt. Im Zusammenhang mit Multi & Media sprichst du von User. Wann fing das an mit der mittlerweile gebräuchlichen Verwendung des Users?“

      „Was weiß ich. Das wird die offizielle Bezeichnung aller Member sein. Das hat sich durchgesetzt. Ist doch aber auch unwichtig.“

      Platz genommen auf einem der Beratungsstühle, erhebe ich mich, beuge mich in Richtung Lennart und argumentiere messerscharf: „Für mich ist User ein deutliches Zeichen für eine um sich greifende Säuberung!“ Dann wende ich mich von ihm ab und begebe mich zur Tür.

      „Warte!“, stoppt er mich. „Heute Abend ist wichtig. Ich weiß das aus gut unterrichteten Kreisen. Heute Abend gibt’s Antworten.“ Er sieht meinen fragenden Blick. „Antworten das Ende betreffend. Bist du dabei?“

      „Mal sehen!“

      Ich höre noch Meike, wie sie spitz fragt: „Wobei dabei?“

      Ich schließe das noch offen stehende Fenster und beobachte, wie sich auf dem Parkplatz gegenüber eine zwielichtige Gestalt an einem Pritschenwagen zu schaffen macht. Ein Mann mittleren Alters, dürre Gestalt, Arme und Beine überproportional lang zum Oberkörper. Er schaut am Heck des Transporters unter die Plane, greift hinein, hängt mit ganzem Kopf drin, wühlt, zieht seinen Kopf wieder raus, schaut um sich, steckt seinen Kopf wieder hinein, wühlt, lässt davon ab, schaut um sich, geht um das Fahrzeug herum und prüft, ob die Führerkabine verschlossen ist. Sichtlich selbst überrascht kann er die Fahrertür öffnen.

      Er durchstöbert fachmännisch die bewährten Plätze, wo für Gewöhnlich etwas zu finden sein wird. Derweil habe ich die unscheinbare graue Stahltür im Auge, die unweit des Geschehens in der Wand eingelassen ist. Im Gegensatz zu dem Dieb kann ich den Wagen zuordnen. Es ist das Betriebsauto der Mahallesi-Familie, die auf der Chausseestraße ein Restaurant betreibt, das über die besagte Stahltür einen Zugang zum Parkplatz hat.

      Die graue Stahltür geht auf. In aller Ruhe schieben sich zwei dicke Brüder heraus. Der eine von den Dicken nähert sich der Fahrzeugkabine von links, der andere von rechts. Kurz bevor sie dicht dran sind, streckt der Dieb seinen Kopf heraus, kriegt entsprechend der Größe des Dicken einen riesen Schrecken, setzt sein dürres, aber flinkes Wesen ein, will auf der anderen Seite entwischen und stürzt in die Arme des anderen. Der packt zu und hält fest. Die Arme des Dicken agieren präzise wie mechanische Greifarme und wollen so gar nicht zum übrigen Korpus passen. Der schlaksige Körper, den die Klauen festhalten, windet sich versuchsweise, aber aussichtslos, ermüdet, schlafft ab und besinnt sich seines Schicksals.

      Der Dicke zieht ihn vollends aus dem Auto und hält ihn wie einen abgerissenen Ast seitlich fixiert entlang seines gewaltigen Leibes. Der andere wandert derweil um den Wagen herum, kommt zu Hilfe, sodass beide den armen Wicht in deren Mitte wegtragen.

      Unten drückt sich indessen unbeeindruckt und unentwegt der Verkehr durch die enge Straße.

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