Sanela Egli

Gantenbein und die Tote in der Dusche


Скачать книгу

      Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Mittwoch. „Oh nein, ist schon wieder eine Woche um?“

      Einmal die Woche, immer mittwochs, wurde um sieben Uhr der vierjährige Fabio von seiner aufgedonnerten Mutter im Chinderhuus abgeladen und um halb sieben abends wieder abgeholt.

      „Ach“, meinte Jasmine und verwarf ihre Hände, „heute kann sich mal Paddy um den frechen Schnösel kümmern. Ich habe keine Nerven für den Bengel.“

      „Tja“, sagte Julia und verzerrte ihr Gesicht, „Paddy hat einen Kurs. Die Glückliche.“

      „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Sie presste die ihre Lippen aufeinander und zog schweigend an Jasmine vorbei, die ihr in die oberste Etage folgte. Julia sperrte die weiße Tür auf und latschte geradewegs zum Fenster, um es zu öffnen. Jasmine ließ die Tür offen, um Durchzug zu machen und den Gruppenraum kräftig mit Frischluft zu durchfluten, so wie sie es jeden Morgen machte. Danach begab sie sich in den hinteren Teil. Sie passierte das Waschbecken zu ihrer Linken, wo die Kinder nach dem Mittagessen die Zähne putzten, warf einen Kontrollblick in die Toilette, die sich gleich daneben befand. Alles sah ordentlich aus. Gegenüber des WCs stieß sie die Tür auf und trat hinein. Sie befand sich inmitten kleiner Matratzen, die auf dem Boden lagen, auf denen die Knirpse ihren Mittagsschlaf hielten. Sie öffnete das Fenster und kehrte in den vorderen Bereich des Gruppenraums zurück, wo bereits die ersten Kinder hereintrudelten. Unter anderem Fabio, dessen vorlautes Mundwerk nicht zu überhören war.

      Jasmine und Julia stellten sich nebeneinander hin, und die eintreffenden Kinder begrüßten sie. Bis alle eintrafen war Spielzeit, das hieß, die Kleinen durften eigenständig herumtollen, was bei den meisten auch ganz gut klappte, nur Fabio hatte den glorreichen Einfall, seine Hose samt der Unterhose herunterzulassen und an seinem Piepmatz zu ziehen. Die anderen Kinder lachten, Julia versuchte, sie zu besänftigen und Jasmine zog den Rebell wieder an.

      Der Tag fängt ja schon gut an, dachte sie.

      Während Julia sich um die Kinder kümmerte, deckte Jasmine den Tisch für den Snack. Heute gab es Früchte am Spieß und Tee. Die Kleinen setzten sich, und alle aßen mit geschlossenen Mündern, nur Fabio nicht, der schmatzte extralaut.

      Nach kurzer Zeit war alles verputzt, und Julia räumte mit Marlies und Gina, zwei Mädchen aus der Gruppe, den Tisch ab. Jasmine setzte sich mit den anderen Kindern vor die Treppe auf den Boden in einen Kreis und zückte das Buch Wo die Tiere leben hervor. Der schwarzhaarige, pummelige Fabio dachte nicht daran, sich hinzusetzen und hopste um die Kinder herum.

      „Fabio! Jetzt reicht es aber. Setz dich hin. Bitte. Ich möchte mit der Geschichte beginnen“, sagte Jasmine bestimmt.

      Der Bengel machte weiter, stellte sich hinter seine Erzieherin und juckte ihr auf den Rücken. In der Rauferei zog er an ihren Haaren. Wie von einer Tarantel gestochen schnellte sie hoch, legte ihre Frisur zurecht und übergab Fabio ihrer Kollegin, mit der er, nachdem der Esstisch wieder sauber war, sich daranmachte, die Spielsachen und Regale abzustauben.

      Jasmine atmete durch, setzte sich mit einem erzwungenen Lächeln in den Kreis zurück und begann, mit einem ziehen in der Magengegend, aus dem Buch vorzulesen. Sie hasste es, wenn jemand ihre Haare berührte. Niemand hatte das Recht dazu!

      ***

      Jasmines Arbeitsstunden waren heute nur mühselig vergangen und sie war froh, als sie endlich wieder zu Hause war. Es gab Tage, an denen man ihr nichts anmerkte. Und dann gab es Tage, wie es heute einer war, an denen sie sich wünschte, im Bett liegengeblieben zu sein.

      Sie hörte, wie jemand die Tür öffnete und eintrat. An den kurzen Schritten erkannte sie, dass es ihre sechsjährige Tochter Angela war. Ein zierliches, kleingewachsenes Mädchen mit langen braunen Haaren kam in die Küche. Jasmine drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

      „Was gibt’s zu essen?“

      „Salat und Schnitzel. Du kannst hierbleiben, Papa müsste auch gleich kommen. Deck doch bitte schon mal den Tisch.“

      Ihre Tochter schlängelte sich an ihr vorbei zur Besteckschublade, als Tim in die Küche trat.

      „Mh … das riecht lecker“, meinte er und umschlang seine Arme um Jasmine und hauchte ihr einen Kuss auf.

      „Hier, du kannst dich gleich nützlich machen“, sagte sie und drückte ihm die Salatschüssel in die Hand, die er mit einem nicht ernst gemeinten Murren entgegennahm.

      Jasmine war auffällig still während des Essens.

      „Mama, ist alles in Ordnung?“

      „Ja, ja, Liebes. Alles bestens. Ich bin nur ein wenig erschöpft, das ist alles. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“

      Jasmine wusste, dass weder Angela noch Tim ihren Worten Glauben schenkten und sie war ihnen dankbar, dass sie es auf sich beruhen ließen.

      Nach dem Abendessen verschwand Angela in ihr Zimmer und Jasmine und Tim warfen sich auf die Couch. Wortkarg saßen sie da, er legte den Arm um sie und zog sie an sich.

      Sie mochte ihn so sehr, doch an schlechten Tagen fiel es ihr ungemein schwer, ihre Gefühle zu zeigen. Überhaupt fiel es ihr immer schwerer, so zu tun, als würde sie ihn lieben, wie sich Ehepaare nun mal liebten. Sie mochte ihn, ja. Sie liebte ihn auch, aber auf ihre eigene Weise. Viel mehr so wie einen Bruder oder den besten Freund.

      Er schaltete den Fernseher ein, und sie warteten auf das Ende des Werbeblocks.

      „Du hast dein Essen schon wieder nicht angerührt.“ Er wandte sich zu ihr und musterte sie eindringlich. „Du hast schon wieder abgenommen.“

      „Ich weiß. Aber ich kriege einfach nichts runter. Sag mal, wie wäre es, wenn wir mal in Urlaub fahren würden?

      Irgendwo ans Meer? Mit dir als Unterstützung wäre das doch kein Problem, oder?“

      Tim senkte seine Lider und blickte betroffen zu Boden.

      „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob das in deinem Zustand gut ist. Du … “, er schaute sie an, „ … du würdest bei der geringsten Anstrengung umkippen bei der Hitze dieses Jahr. Und im Süden sind die Krankenhäuser angsteinflößend. Was, wenn du medizinische Versorgung benötigst, die sie dir nicht geben können?“

      „Ach, komm, du machst dir mal wieder viel zu viele Gedanken. Lass uns gleich morgen zum Flughafen fahren und dort spontan entscheiden, wo wir hinfliegen.“

      „Morgen? Jasmine, Angela muss zur Schule, wir können sie nicht einfach rausnehmen. Und ich muss arbeiten. Wie stellst du dir das denn vor?“

      Das Gespräch war abrupt beendet, und die beiden fokussierten sich wieder auf den Fernseher.

      Ja, wie stellte sie sich das vor?

      Er schwieg. Dann setzte er sich gerade hin und wandte sich ihr zu. „Jasmine, warum fährst du nicht allein? Ich kann wirklich nicht mitkommen, das liegt einfach nicht drin.“

      ***

      Das Ehepaar Spuhler lag im Bett, wie immer, Tim auf die eine Seite schauend, Jasmine auf die andere. Als hätten sie sich nichts zu sagen.

      Sie setzte sich auf.

      „Kannst du dich bitte zu mir drehen? Ich … ich hab dir was zu sagen.“

      Er tat wie geheißen. Sie schloss für einen Moment ihre Augen, hielt kurz inne.

      Jetzt oder nie, dachte sie. Jetzt oder nie.

      „Tim ich … ich ….“

      „Du musst mir was sagen, ich weiß schon. Aber was?“

      „Es fällt mir nicht gerade leicht, darüber zu sprechen. Meine Krankheit … du weißt ja, dass die vielleicht tödlich endet.“

      „Mhm.“

      „Ich will die Zeit, die mir noch bleibt, so leben, wie ich will und nicht, wie man es mir vorschreibt oder von mir erwartet.“

      „Liebling,