Marian Hajduk

Dewil's Dance


Скачать книгу

entlang seiner Geschichte gefolgt. Nicht selten habe ich dabei geglaubt, mich selbst in seinen Zeilen wiederzuerkennen.

      Auf meinem … auf seinem … oder besser: auf unserem gemeinsamen Weg sind mir dabei einige denkwürdige Gestalten begegnet, die mich schlussendlich zum Fund der Tasche geführt haben, von der hier die Rede ist. Doch lassen Sie mich meine Geschichte von vorne beginnen:

      Es war ein durchschnittlicher aber glücklicherweise halbwegs sonniger Nachmittag, als ich vor einigen Tagen in meinem Stammcafé ankam. Nachdem die Tische im Inneren von einigen wenigen Gästen besetzt waren und ich mich freute, dass gerade die Sonne durch die Wolken lugte, nahm ich an dem gusseisernen runden Tischchen draußen vor dem Café platz. Neben einer leeren Kaffeetasse und einem übervollen Aschenbecher aus selbstgedrehten Kippen fand ich die Seiten, die ich hier gerade in Händen halte.

      Ist hier draußen besetzt? fragte ich die Kellnerin. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. Also setzte ich mich. Eigentlich rechnete ich damit, dass jeden Augenblick ein einzelner Gast von der Toilette zurückkommen würde, um meinen Platz für sich zu beanspruchen. Doch es kam niemand. Ich wartete dort sicher eine halbe Stunde lang. Als immernoch niemand aufgetaucht war, erkundigte ich mich drinnen, ob jemand womöglich sein Manuskript hier vergessen hatte. Doch die Kellnerin meinte bloß, sie habe draußen am Tisch niemanden bemerkt. Sie wirkte gleichgültig – daher hielt ich es für keine gute Idee, das Manuskript an der Bar abzugeben. Vielleicht würden sich aus den Zeilen Hinweise auf die Identität des Verfassers ergeben, dachte ich – und so gab ich nach einer Weile meiner Neugier nach und vertiefte mich in den Text.

      Die Geschichte schlug mich schnell in ihren Bann. Sie beginnt mit einem tagebuchartigen, melacholisch anmutenden Eintrag, den ich anfangs nicht wirklich zu deuten verstand. Doch was sich kurz darauf für den Erzähler – und mich selbst! - entwickelte, übertraf meine kühnsten Erwartungen…

      Bei dem Verfasser handelt es sich allem Anschein nach um einen jungen Mann – ich erwähnte es breits – der sich offenbar als Schriftsteller versucht. Er wirkt unausgeglichen, rastlos, nicht selten geradezu aufgewühlt. Und seine Geschichte beginnt mit folgenden Worten:

       - 3 -

      Weiß.

      Riesengroßes sich auftürmendes Weiß. Das gewaltsam Besitz ergreift.

      Überall.

      Nur Weiß.

      Es zieht sich zusammen. Kommt näher und zieht sich zusammen, bis es mich in sich eingeschlossen hat.

      Es legt sich wie flüssige Angst um meinen Körper und schließt ihn ein.

      Es schließt meinen Körper ein und presst ihn zusammen.

      Zähflüssig wie warmer Beton dringt es durch alle Körperöffnungen in mich ein.

      Es fließt in meinen Mund, durch die Stirnwände bis in die Augenhöhlen, durch die Luftröhre und Lungen bis in den Magen.

      Und erstarrt. Ich bin völlig bewegungsunfähig.

      Es härtet aus und lässt mich liegen.

      Eingegossen in steinernes Weiß.

      Ich müsste ersticken aber ich kann es nicht. Weil meinem Körper ausreichend Platz für seine abgehackte, panische Atmung gelassen wird. Damit ich die Angst spüren kann. Das Weiß aus Nichts frisst sich in meine Seele und tötet jeden Gedanken. Daran wer ich bin und daran was ich kann. An alles, was ich jemals vollbracht habe. Meine Seele müsste erfrieren und gleichgültig werden aber sie kann es nicht. Weil ihr ausreichend Platz für eine einzige Empfindung gelassen wird: Die Nichtswürdigkeit.

      Ich bin der Mittelpunkt eines geometrischen Körpers, der nur ein Innen besitzt. Sein weißes Inneres hat sich auf mich hinabgewölbt und mich verschlungen. Hat meinen Körper und meine Seele präpariert wie das Gestein ein prähistorisches Schneckengehäuse. Doch es ist nicht mein Körper, der konserviert werden soll. Es ist die Angst. Mein Selbsthass und das Alleinsein. Die gnadenlose, martialische Bestrafung meiner Unfähigkeit. Meiner Untätigkeit. Das einzige, das wertloser ist als das Versagen.

      Außerhalb des geometrischen Körpers ist nur das All. Das völlig entleerte, materielose Universum aus abermilliarden Lichtjahre währender Dunkelheit. Ein Raum von der Größe jenseits aller Vorstellungskraft, der nur aus Leere besteht.

      Die Leere ist um die Einsamkeit mehr als das Nichts.

      Und ich bin in dem Kern aus Weiß inmitten des endlosen Schwarz um die Verzweiflung mehr als nur organische Masse.

      Also geht es weiter?

      Ich warte.

      Ich warte solange es geht.

      Kann ich die Augen schließen?

      Die weiße Masse zieht sich langsam aus meinem Körper zurück. Die auf den Lichtstrahlen tänzelnden Schmerzen verlassen die Netzhaut. Wie flüssige Tinte das klare Wasser löst die Dunkelheit alle Farben in sich auf. Die unbegreifliche Leere schrumpft zu einem vorstellbaren Kosmos. Ein Kosmos aus kühler, materieller Dunkelheit. Immer konkreter zieht der Raum sich zusammen. Und modelliert Annahmen, Bilder und Erinnerungen. Die Vorstellung einer Welt.

      Ich will die Augen öffnen aber zwinge mich, sie geschlossen zu halten. Ich sehe meine Umgebung trotzdem ganz genau. Die weißgetünchten Wände meines schmalen und schmucklosen Zimmers. Die niedrige Decke, die den langgezogenen Raum abschließt. Ich sehe, wie der Tag hell und kalt durch das Fenster leuchtet und sein flimmerndes Licht von den kahlen Wänden in meine Pupillen geworfen wird. Ich erinnere mich, dass irgendwo ein Handtuch herumliegen müsste und taste mich blinzelnd zum Fußende. Weil ich es auf den Boden geworfen hatte, ist das schwere Stück Stoff noch klamm von der letzten Dusche. Ich hänge es über das gekippte Fenster am Kopfende meiner Matratze, damit es den Raum abdunkelt, und lasse es Tag werden.

       - 4 -

      Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann der Wunsch – oder vielmehr: das Verlangen in mir aufkam, den Urheber dieser Geschichte ausfindig zu machen. Ich hatte den jungen Mann und seine Zeilen mit nachhause genommen, mich hingeletgt und war in Gedanken an ihn eingeschlafen.

      Ich erinnere mich, wie ich am nächsten Morgen aufwachte. Und daran, dass ich geträumt hatte:

      Ich ging wieder zur Schule. Ich erkannte den betongrauen Flachbau draußen in der Peripherie – jenem klinisch toten Niemandsland aus Einkaufszentren, Waschstraßen, Fastfoodrestaurants. Und Parkplätzen. Endlosen Spalieren ergonomisch angeordneter Parkplätze, auf denen tagsüber die Minivans weideten. Ein Ort zwischen zwei Welten, zu leblos um Stadt, zu trostlos um Land zu sein.

      Ich erkannte die Klassenzimmer wieder, inhalierte den Geruch von Backstein und frisch gewischtem Linoleumfußboden. Die Lehrkräfte gab es immernoch: Der bärtige Oberstudienrat mit seinem wippenden Gang und dem schütteren, über die Glatze gekämmten Haar, die Mathematiklehrerin in ihrer verblichenen Schönheit, deren üppiger Busen auf der Tischplatte ruhte. Ich unterhielt mich mit den Geistern meiner Klassenkameraden: Wir rauchten auf der gegenüberliegenden Straßenseite, tranken Cola aus Dosen und tauschten Befürchtungen über die bevorstehenden Klausuren aus. Doch mein Ich war nicht mehr der Teenager von damals, sondern der erwachsene Mann, der ich heute bin.

      Und ich hatte alles vergessen. Ich konnte keinen Dreisatz mehr lösen, keine Kurvendiskussion, keine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich kannte keine chemischen Verbindungen mehr, keine Vokabeln, keine Grammatik. Die lateinischen Texte verschwammen vor meinen Augen zu Reihen aus unergründlichen Hieroglyphen. Ich wühlte mich durch die Jahrgangsstufen, wiederholte die Kurse wieder und wieder, Vektoren, Periodensystem, Gedichtanalyse, Doppelspaltexperiment… Es dauerte Jahre, Jahrzehnte, eine willkürliche Groteske, mal wurde ich vorgelassen, dann wieder zurückversetzt, ich fiel durch, fiel auf, fiel aus, ich fiel und fiel, taumelte und wankte, durch die Gänge, durch die Jahrgangsstufen, durch mein Leben.

      Manchmal, sehr selten, gefühlt lagen Jahre dazwischen, die ersten