Einleitung
In den letzten Jahren sind einige Bücher darüber erschienen, wie man sich gegen tätliche Angriffe – insbesondere als Frau oder Mädchen gegen sexuelle Gewalt – zur Wehr setzen kann.
Doch mittlerweile haben nicht mehr nur Frauen Angst, überfallen und vergewaltigt zu werden. Auch Männer, männliche Jugendliche und Jungen zittern vor der zunehmenden Brutalisierung der Gesellschaft; ausländische und behinderte Menschen fürchten die rechtsradikale Straßengewalt. Schon die Kinder in den Schulen leiden unter Schlägereien und Erpressungsversuchen durch ältere Schüler – übrigens auch durch Schülerinnen! – oder Schulhof-Gangs.
Verstört und ungeheuer hilflos verfolgt man die unglaublichen Angriffe bewaffneter Jugendlicher auf ihre Lehrer und Mitschüler; das Wort «Frontalunterricht» hat mittlerweile eine ganz eigene, makabre Bedeutung gewonnen: Es herrscht «Krieg» – nicht allein an der sexuellen Front, wie es die Frauenbewegung seit den Siebzigerjahren beklagt, sondern ganz allgemein in Klassenzimmern, Supermärkten, Vereinslokalen und Einbahnstraßen.
Wie der fundamentalistische Terror fehlgeleiteter Fanatiker und die erschütternden Gewalt- und Selbstmordszenarien in abgeschotteten Sektengemeinschaften sind die Morde an den Schulen die Eisbergspitze einer nach und nach immer gewalttätiger werdenden globalen Gesellschaftsstruktur.
In vielen Abhandlungen seit dem Beginn des Medienzeitalters, als die ersten Fernsehapparate auf stakeligen Beinen neu im Mittelpunkt der Nachkriegswohnzimmer standen, wurde die Verantwortlichkeit der Medien für das Herabsetzen der Hemmschwellen immer und immer wieder beschworen. Seit Internet und Videospiele durch die Kinderzimmer geistern, weist man, zu Recht, auf deren Gefährlichkeit hin. Auch die Erreichbarkeit des einzelnen allein durch die täglichen Nachrichten bewirkt ganz sicherlich eine Art schleichender Veränderung in den unbewussten Einstellungen zu Gewalt und Gewaltanwendung, der sich auch Menschen kaum entziehen können, die keine brutalen Videospiele lieben oder Schlächterfilme anschauen. Es geschieht etwas mit uns, wenn wir aus den Nachrichten über das soundsovielte Selbstmordattentat erfahren; die suggestiven Bilder der anfliegenden Jets am 11. September 2001 bewirken eine Art Gewöhnung – Ästhetisierung der Gewalt sagen manche Intellektuelle, was letztlich eine fatale Beschönigung ist –, die meiner Meinung nach selbst im pazifistischsten Gemüt Hemmschwellen gegenüber der Akzeptanz von Gewalt niederreißen.
Betrachtete man bis vor etwa zwanzig Jahren Gewalt und Machtmissbrauch durchaus noch als etwas von Menschen Verursachtes, weshalb man davon ausging, dass die Gewalt durch Menschen auch zu verhindern sei, so bekommt die Gewalttätigkeit heutzutage allmählich etwas Unausweichliches. Sie wird zu einer Art Naturereignis, einer Katastrophe, gegen die man eigentlich nichts machen kann, der man hilflos ausgeliefert ist, deren Ursachen man vielleicht sogar erforschen und benennen kann, aber gegen die man letztlich, wie bei einer Sturmflut oder einem Meteoritenabsturz, nichts ausrichten kann.
In den frühen neunziger Jahren beklagte ich einmal gegen über einer Isländerin die Gewalttätigkeit ihrer deutschen Schwester, die eine sektenartige Gemeinschaft führte, woraufhin ich zur Antwort bekam: «Das ist wie bei einem unserer Vulkanausbrüche – da können wir nichts machen –, das ist einfach so.»
Dieser Vergleich hat mich seither nicht mehr losgelassen, denn sosehr ich persönlich die Freundschaft dieser Isländerin schätzte, wollte es mir einfach nicht in den Kopf, dass man sich nicht sehr wohl auch gegen die von Menschen gemachte Gewalt zur Wehr setzen könne, dass es Möglichkeiten gibt, die Ursachen für menschliche Gewalttätigkeit herauszufinden und die Gewalttätigkeit einzuschränken.
Wie aber können sich einzelne Menschen vor Gewalt schützen, ohne selbst – z. B. in Bürgerwehren oder durch private Bewaffnung – am Rad der Gewalt mitzudrehen?
Lässt sich Gewalt, egal auf welcher Ebene, eventuell schon im Vorfeld erkennen und somit beeinflussen?
Offensichtlich haben die vielen wissenschaftlichen Untersuchungen wenig dazu beigetragen, das Ausmaß der Gewalttätigkeiten zu senken. Möglicherweise ist ein Grund dafür, dass die Medienapparate von Anfang an zu machtvoll und zu einflussreich waren, als dass sie sich durch die klugen Ergebnisse auch nur annähernd hätten einschränken lassen. Ganz im Gegenteil: Durch die Einführung privater Sender und Anbieter konnten sie sich in wesentlich stärkerem Maße der staatlichen Kontrolle entziehen als zuvor. Die Pressefreiheit ist eine «heilige Kuh» – aber auch heilige Kühe können großen Schaden anrichten, wenn in ihrem Namen Bilder und Inhalte geliefert und verbreitet werden, die zu Mord und Vergewaltigung aufrufen, oder Foren angeboten werden, in denen junge Leute beispielsweise darüber diskutieren, was die Attentäter von Littleton oder Erfurt hätten «besser» machen können!
Früher verbreiteten die christlichen Kirchen in ihren Bildern, die sie auf die Kirchenwände malen ließen, Aufforderungen zu Gewalt, Totschlag, Diskriminierung oder Märtyrerverherrlichung.
In einer kleinen Kirche im Schweizer Hochtal der Surselva findet man beispielsweise das Altarbild des heiligen Zeno, der in jener Gegend missionierte, auf dem er – übermächtig im weißen Gewand – eine lange Lanze in den Körper eines dunkelhäutigen, lockenköpfigen Menschen rammt, der sterbend und blutend aus dem Bild dem Betrachter entgegenstürzt. Signalisiert die Dunkelhäutigkeit «Heidentum», so weist der Bocksfuß der Figur darauf hin, dass es sich eigentlich gar nicht um einen Menschen sondern um den Teufel handelt, den man ja bekanntlich straflos erschlagen darf! Generationen haben vor diesem beängstigenden und sehr dynamischen Bild gesessen, gekniet. Während langweiliger Predigten gab es Zeit genug, es in sich aufzunehmen und zu verarbeiten – seelisch offen, wie es bei spirituellen Zuständen üblich ist.
Die Kirchen nahmen jahrhundertelang jene Position ein, die wohl heute die Medien haben: Man glaubte ihnen. Und jahrhundertelang propagierten diese Kirchen Mord und Totschlag an Andersgläubigen, zettelten Kreuzzüge an, deren Nachwirkungen bis heute das Verhältnis zwischen Orient und Okzident belasten, brachten unzählige Frauen und Männer unter den obskursten Vorwänden auf die Scheiterhaufen, was zumindest die Einstellung gegenüber Frauen und ihrer Sexualität bis heute nachhaltig beeinflusst, und förderten die Verfolgung der europäischen Juden – bis ins 20. Jahrhundert hinein, als der Papst sich schweigend vom Massenmord unter den Nationalsozialisten abwandte.
Erst seit demokratische Kontrollen erstarkten – meistens mit dem Schlagwort «Trennung von Staat und Kirche» bezeichnet –, begannen sich die Großkirchen zu humanisieren und sukzessive an Macht zu verlieren.
Doch es gibt religiöse Gemeinschaften oder sogar global agierende Sekten, die sich letztlich sowohl nach innen wie nach außen noch immer so gebärden wie die europäischen Kirchen im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Außerdem zeigen Länder, die diese Trennung zwischen Politik und Religiosität nicht vollzogen haben, wie beispielsweise viele moslemische Staaten, ähnliche Erscheinungen wie das christliche Europa vor der Aufklärung. Ob ich nun «den Teufel» in Menschengestalt an die Wand male oder Leute, deren Lebenseinstellung mir nicht in den Kram passt, so nenne, bleibt sich gleich.
An die Stelle der Kirchen sind heute, vereinfacht gesagt, die Medien gerückt: Sie liefern Bilder und Gefühle, Geschichten und Erklärungsmuster. Es ist ganz sicherlich so, dass diese mächtigen Institutionen einen ähnlichen Aufklärungs- und Domestizierungsprozess zu durchgehen haben, wie ihn weiland die christlichen Großkirchen in Europa durchliefen und wie er für einige andere Großreligionen immer noch dringendst erforderlich ist. Dieses Thema einer politischen und staatlichen Gewaltprävention ist ein besonders umfangreiches und erfordert eine spezielle Behandlung.
Mein