Martina Dr. Schäfer

Der Gewalt keine Chance


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auf eine niedrigere Hemmschwelle, andere Menschen zu attackieren, schließen lassen. Sie sprechen eine bestimmte Sprache und leben Gefühle aus, die ihre Freude an der Gewalt, an Macht, am Tyrannisieren Schwächerer oder Abhängiger signalisieren.

      Warum sie sich so verhalten, kann einem im Grunde genommen ganz gleichgültig sein, besonders dann, wenn man selber in eine unangenehme Situation mit ihnen gerät. Da kann eingehendes Hinterfragen sogar hinderlich sein. Es ist der Geistesgegenwart abträglich, wenn man allzu lange darüber nachdenkt, warum der Herr, der doch an der Bushaltestelle anscheinend nur um Feuer bitten wollte, plötzlich nicht mehr loslassen will.

      Über zwei Drittel aller Gewalttaten sind sogenannte Beziehungstaten, das heißt: Täter und Opfer kennen sich. Das trifft insbesondere auf die sexuelle Gewalt zu. Selten springt eine Art wildgewordener Tarzan in einem einsamen Park hinter einem Busch hervor und stürzt sich auf sein Opfer. Auch sonst lauern Täter weniger in der Einsamkeit der Bergwelt oder «im Wald». Das wäre ja auch eigentlich unlogisch, denn wer weiß, wie lange sie dort warten müssten, bis eine Wanderin vorbeikommt!

      Das führt gleich zu einer weiteren Eigenschaft von Gewalt, insbesondere der sexuellen Gewalt: Entgegen landläufigen Auffassungen, die immer noch durch die Medien geistern, geschehen die meisten Sexualstraftaten nicht aufgrund spontan aufgetretener, unbeherrschter Triebe, die sich da plötzlich, beim Anblick eines Kindes, einer Frau, Bahn brachen – vielleicht gar, weil der «arme Täter» seit Wochen keinen sexuellen Kontakt mehr hatte, seine Frau nicht mit ihm schlafen will oder er als Priester im Zölibat lebt.

      Solche Vorstellungen verlagern die Schuld an der sexuellen Attacke erstens auf die Umwelt des Täters, beispielsweise die «böse Gattin», die ihren «ehelichen Pflichten» nicht nachkommt, oder eine altbackene Kirchenregel, welche die Priester oder Mönche unter ihre Knute zwingt; zweitens auf irgendein diffuses Innenleben, das Unbewusste, die Triebe oder Instinkte, die sich nach Art eines Naturereignisses entluden, wofür der Täter eigentlich gar nichts konnte – besonders, wenn er Alkohol getrunken hatte und seine bewussten Kontrollen noch niedriger lagen als sonst vielleicht.

      Beide Erklärungsmuster sind anscheinend aus der seltsamen Angst entstanden, die Täter wirklich beim Namen zu nennen. Die Gruppe der Männer in Gestalt von Ärzten, Richtern, Gutachtern und anderen Fachleuten scheute sich jahrzehntelang, die einfache, aber schreckliche Tatsache zu benennen, dass Männer, geplant und ohne Wenn und Aber, zu Vergewaltigern werden können. Erst die Neue Frauenbewegung hat seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts immer wieder darauf hingewiesen und das ganze Ausmaß der Verschweigerei öffentlich gemacht. Seitdem sind zumindest die männlichen Fachleute, Polizisten, Richter und Gerichtspsychiater usw. bereit, in dieser Sache Klartext zu reden.

      Auch kleinere Gruppen scheuten und scheuen sich bis heute, offen über Gewaltanwendung durch ihre Mitglieder zu sprechen: Die Kirchen waren groß im Verschweigen, als nach und nach die sexuellen Übergriffe einiger ihrer Priester an Kindern zum Vorschein kamen; Lehrer wurden jahrzehntelang einfach von Gemeinde zu Gemeinde strafversetzt, wenn dergleichen publik wurde; Standesorganisationen versuchten, Anklägerinnen mundtot zu machen.

      Ich werde weiter unten noch einige Male auf dieses Phänomen des Abwehrens und Verschweigens zurückkommen, über welches auch viele Menschen ein trauriges Lied singen können, die innerhalb ihrer Familien sexueller Gewalt ausgesetzt waren und sie Jahre später anzuklagen versuchten.

      Doch die Täter sind auf jeden Fall die Schuldigen, denn Anmache, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen sind meistens geplant. Der Täter hat sich sein Opfer, das ihm im Bekannten oder Verwandtenkreis begegnet ist, längst ausgesucht. Er entwickelt eine Strategie, sich der Frau zu nähern oder das Kind in seine Nähe zu holen. Meistens ist er eine vertraute Person, vor dem das potentielle Opfer erst einmal keine Angst hat. Und meistens befindet sich dieses in irgendeiner Art Abhängigkeit vom Täter – emotional, weil er ein Mitglied der Familie ist, finanziell, weil er die Ausbildung bezahlt, leistungsmäßig, weil er ein Lehrer oder anderer Ausbilder ist, spirituell, weil er der Beichtvater ist, usw.

      Wenn aber die Täter aus dem eigenen, nahen Umfeld stammen, stellt sich die Frage: Woran kann ich sie erkennen? Denn ganz sicherlich sind ja nicht alle Männer Vergewaltiger, sexuelle Anmacher oder sonstwie glibberige Personen. Das Erkennen eines potentiellen Täters ist vor allen Dingen immer noch eine Sache des Gefühls, der Intuition – weniger kühl-sachlicher Überlegungen.

      Jeder hat wahrscheinlich schon einmal Stare oder andere Vögel auf einem Draht, einer Stange oder einer Überlandleitung sitzen sehen. Sie halten voneinander einen ziemlich gleichmäßigen Abstand, der mit ihrem eigenen Körperumfang, der Länge der Flügel, des Schnabels und noch anderen Äußerlichkeiten korrespondiert.

      Manchmal, wenn sich jeder Vogel in seinem Revier aufhält, wird die Stimme eingesetzt, um den Umfang dieses Reviers zu markieren, der in irgendeiner Weise mit der Reichweite dieser Stimme zusammenhängt.

      Wenn man sich einem Spatzen nähert, der auf dem Boden hockt, so wartet dieser einen ganz bestimmten Moment ab, um aufzufliegen. Auch Wildtiere verhalten sich so, Katzen, die in der Sonne liegen, oder Frösche, die sich am Rande eines Teiches auf Seerosenblättern sonnen.

      Jedes Tier hat eine ganz bestimmte Fluchtdistanz – und diese wiederum bestimmt sich aus der Art und Reichweite seiner eigenen Körperwaffen, aus seiner Schnelligkeit und dem Ausmaß der Bedrohlichkeit des sich nähernden anderen Tieres oder des daherkommenden Menschen. Menschengewohnte Vögel wie der Kulturfolger Spatz haben eine erstaunlich geringe Fluchtdistanz, sie scheinen aber auch genau zu wissen, dass wir nicht fliegen können. Ein Löwe wiederum hat uns gegenüber gar keine Fluchtdistanz, und jene des Menschen ist gegenüber einem größeren Raubtier eigentlich unendlich: Es ist das Beste, wenn der Löwe den Menschen, der da durch die Savanne läuft gar nicht erst sieht.

      Die Flucht- oder Beißdistanz eines Hundes, der ein domestiziertes Raubtier, ein ehemaliger Wolf ist, ist uns Menschen gegenüber sehr gering, im Ernstfall befindet sie sich irgendwo in der Nähe seiner Haarspitzen. Ein Hund gilt als unberechenbar, wenn man ihn nicht ungestraft anfassen darf. Manchen Hunden hat man das Revierverhalten aber gelassen oder neu anerzogen. Sie dienen als Wachhunde und verbellen oder beißen jeden, der das Revier unerlaubt betritt. In freier Wildbahn markieren hundeähnliche Tiere ihre Gebiete mit ihrem Sekret, das sie an Bäumen, Steinen und anderen markanten Stellen in der Landschaft deponieren. Wehe, ein anderes Tier dringt in dieses zwar unsichtbare, aber riechbare Revier ein!

      Auch wir Menschen haben im Grunde genommen noch solche Reviere. Unsere Vorfahren, die Australopithecinen in der afrikanischen Savanne oder die ersten Lagerfeuermacher im eiszeitlichen Europa, hatten sicherlich noch ein stärkeres Sensorium dafür als wir Menschen der Gegenwart. Aber wenn wir uns selbst ein bisschen genauer beobachten, können wir an uns selber durchaus noch solche Eigenarten wie eine Fluchtdistanz feststellen. So ist es beispielsweise den meisten Leuten sehr unangenehm, mit fremden Menschen irgendwo im Bus oder in der Straßenbahn zusammengepfercht herumstehen zu müssen; rappelvolle Kaufhäuser senken die Lust am Einkaufsbummel rapide, und das Gedrängel in einer Disco hält man eigentlich nur aus, weil in der Nähe die eigenen Leute herumtanzen, die Freundinnen und Freunde aus der Clique, mit der man losgezogen ist.

      Eine Art von Revier ist also wohlungefähr die Länge der eigenen Arme, die auch gewissermaßen unsere Körperwaffen sind. Man hält unvertraute und fremde Menschen am liebsten mindestens eine Armlänge weit von sich. Aus dieser Distanz kann man übrigens auch am besten ihr Gesicht betrachten, ihre Mimik beobachten und daraus ihr Verhalten einschätzen. Auf der anderen Seite lässt man die Freundinnen, vertraute Menschen in diesen Bereich hinein.

      Eine andere Möglichkeit, die in unserer Kultur vor allem Frauen nutzen, ist die Verstärkung des eigenen Körpergeruchs. Mehr oder weniger dezente Parfüms signalisieren: Mein Raum reicht so weit wie mein Geruch! Umgekehrt gibt es eine ganze Menge Menschen, die man «irgendwie» nicht riechen kann und von denen man dann sicherlich einen größeren Abstand braucht als nur eine Armlänge. Wenn Menschen mit ihrem Parfüm, ihrem Geruch einen ganzen Raum füllen, so empfinden wir das als dominant, nervig, unhöflich, vielleicht sogar ein bisschen nuttig. Ich hatte eine Tante, die drückte das, zum Schrecken meiner wohlerzogenen Frau Mama, so aus: «Diese Dame da stinkt wie ein ganzes Freudenhaus!» Meine Armlänge – die Flügelspannweite