der älteren Personen, diese Anschmachtereien in die richtigen Bahnen zu lenken.
In Chören, Sportvereinen und anderen Gruppen, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind, ist der Flirt eine Art Essenz des mitmenschlichen Umgangs miteinander. Er verschönt das Leben, und wer nicht angeflirtet werden will, kann die Augen abwenden oder etwas dazu sagen. Flirten und Anlächeln sind die positiven Weisen auf eine weitere Distanz hin, Kontakt mit Menschen aufzunehmen, die einen körperlich anziehen.
Doch dieses Kapitel handelt von den unangenehmen Überschreitungen der Distanzgrenzen. Dazu gehört zum Beispiel die Anstarrerei, dieses «Mit-den-Blicken-Ausziehen», das viele Frauen und Mädchen schon einmal erlebt haben. Das kann über viele Meter hinweg geschehen und ist sehr unangenehm. Dem Starrer geht es offensichtlich auch nur um Teile der anderen Person, Körperteile, nicht um die ganze Person. Er starrt auf den Busen der jungen Frau oder leckt sich die Lippen angesichts ihrer Beine. Moderne Frauen behandeln heutzutage manchmal auch Männer so: Sie starren auf den Schritt eines Mannes oder lecken sich die Lippen angesichts seines Hinterns.
Das Starren signalisiert auch nicht, dass man Kontakt aufnehmen will, sondern dass man sich am angeschauten Teil selber schon aufgeilt – ganz unabhängig vom Wesen oder gar von den Interessen der angestarrten Person. Die Frau wird zu einem Objekt, der Anstarrer zum Jäger, der auf einen kleinen Ausschnitt zielt.
Auch wenn er viele Meter entfernt dasteht, hat die angestarrte Person das gleiche Gefühl wie bei dem korpulenten Herrn, der seine Mitfahrerin gegen die Fensterscheibe des Busses drängelt: ein Gefühl, nicht geachtet zu werden, als Gegenstand behandelt zu werden, eine körperliche Aufmerksamkeit zu bekommen, um die man sicherlich nicht gebeten hat. Auch wenn sich der Starrer nicht bewegt, scheint es, als würde der Gartenzaun niedergerissen und als würden die Hauswände mit Kot verschmiert.
Ungebetenes Anstarren ist eine der ersten Stufen sexueller Gewalt. Es dient unter anderem auch dazu, die angestarrte Person zu verunsichern und sie auf Objektstatus herunterzudrücken: Sie ist nicht mehr wert als ihr Po oder ihr Busen. Der Starrer bedient sich der Frau, des Mädchens, manchmal auch den Mannes oder Jungen, ohne sie zu fragen, und er tut dies im wahrsten Sinne des Wortes ohne «Ansehen der Person». Die Persönlichkeit und der Charakter des/der Angestarrten interessieren ihn auf keine Weise, schon allein deswegen, weil dahinter ein eigener Wille steht und die Person eventuell sagt: «Nein!», «Lass das!» oder «Glotz nicht so!» Dann stellt sie ihren eigenen Willen, ihre eigenen Wünsche denen des Starrers entgegen.
Die meisten Menschen können übrigens auch sehr sicher zwischen den bewundernden, liebevollen Blicken des Flirtens und den raubgierigen des Starrers unterscheiden. Im ersten liegt Lob und Anerkennung, Neugierde, was sich wohl hinter dem schönen Äußeren noch verbirgt. Im zweiten liegt gar nichts außer Macht. Nicht einmal ein Metzger schaut das zu schlachtende Tier so abfällig an wie ein geiler Starrer sein Opfer.
Hier genügt es nicht, nur ein paar Meter zwischen den Starrer und sein Opfer zu legen. Am besten wäre es, man könnte unmittelbar eine Wand hochziehen, die einen vor den Blicken des anderen verbirgt.
Und wieder haben wir das Problem der unausweichlichen Gruppen/Situationen, in denen die sexuelle Gewalt meistens stattfindet: Eine Schülerin kann nicht so einfach den Unterricht verlassen, wenn ihr der Mathematiklehrer seibernd auf den Busen starrt; ein Kind muss schon sehr stark sein, wenn es angesichts des glotzenden Onkels auf dem Familienfest einen Aufstand wagt. Es ist unangenehm, aber im Notfall kann ich die Straßenbahn eine Haltestelle vorher verlassen, wenn mich mein starrender Sitznachbar stört, oder diesen heftig anraunzen: «Glotz weg!» Vielleicht bin ich emotional sehr auf meinen Sportverein angewiesen, sodass ich ihn wegen eines Glotzers nicht aufgeben werde, aber vermutlich finden sich solidarische Kameraden, die auf meine Bitte hin ein ernstes Wort mit ihm reden, ohne dass ich gleich im Regen stehen muss.
In einem der Chöre, in dem ich sang, belästigte ein Gastsänger aus einem anderen Chor uns Altistinnen während der Generalprobe auf der Bühne, und es war anzunehmen, dass er das auch in der Enge der Aufführung machen würde. Doch es war ein Leichtes, den Vorsitzenden des Chors, einen Studienkollegen von mir, um Hilfe zu bitten. Ruck zuck stand der Gruselkerl während der Aufführung in der letzten Reihe, dicht umgeben von unseren eigenen Chorfreunden, die ihn gegen die Frauen abschirmten.
Ebenso wie mit Blicken überwinden machthungrige Leute mit ihren Worten größere Hürden als den oben beschriebenen Gartenzaun, in Worten und Wendungen, mit denen sie sich auf Kosten der beschimpften oder belästigten Person aufgeilen. Worte können Menschen sogar in ihrer Abwesenheit demoralisieren. Hierzu gehören frauenfeindliche Witze – die bekanntesten sind die «Blondinenwitze» –, herabsetzende Bemerkungen, aber auch scheinbar lobende und dennoch abwertende Bezeichnungen wie «geile Titten» oder «Knackarsch». Wieder wird die so bezeichnete Person auf einen Körperteil reduziert.
Wirklich verliebte Leute werden den Körper der angebeteten Person niemals so abfällig bezeichnen, sondern wacker auf sämtliche blumigen oder sonstwie romantisierenden Vergleichsrepertoires zurückgreifen, um ihr Entzücken über die Schönheit der anderen Person, aber auch die Besonderheit ihres Charakters, die Einmaligkeit ihres Wesens auszudrücken. Ganze Bücherschränke voller Liebeslyrik sind so entstanden, und beinahe alle großen spirituellen Werke dieser Welt enthalten Liebeskapitel, in denen erotische und spirituelle Begeisterung im Besingen der geliebten Person zusammenfließen, z. B. das Hohelied Salomos im Alten Testament.
Vor allen Dingen signalisiert die echte Begeisterung und verbale Zuwendung, dass die geliebte und bewunderte Person höchst einmalig und keinesfalls austauschbar ist. Sie ist unersetzlich. Es gibt nur sie, und ohne sie würde die Erde untergehen, der Himmel einstürzen.
Sowohl dem Starrer als auch dem verbalen Angreifer jedoch ist diese Einmaligkeit egal. Ganz im Gegenteil: Die sexuell attackierte Person muss austauschbar sein, sie ist wie die Gazellen der Savanne nur eine von vielen, dem Löwen ist es nur wichtig, irgendeine zu erwischen, welche genau, ist gleichgültig, Hauptsache, sie schmeckt und nährt ihn.
Wie den Jäger, wie das Raubtier interessiert auch den sexuellen Angreifer nicht die Kommunikation oder der Austausch mit seinem Opfer. Es kann keine Diskussion zwischen den beiden geben, weil sie gar keine gleich starken Diskussionspartner sind. Für den sexuellen Gewaltmenschen kommt es auf Titten und Pos an, austauschbare Körperteile, die man fallen lässt, wenn man sich an ihnen aufgegeilt hat. Auch diese Austauschbarkeit trägt sehr zur Verunsicherung der Opfer bei.
Der erfreuliche Zeitgenosse aus dem anderen Chor, von dem oben die Rede war, hatte noch eine weitere unangenehme Eigenschaft: Er murmelte zotige Bemerkungen in unsere Nacken und machte abfällige Aussagen über die Frauen, wenn sie an ihm vorbei durch enge Gänge auf die Bühne gingen. Auch hier bei konnten unsere Verbündeten helfen, denn als Eingesessene hatten wir Frauen und unsere Freunde letztlich doch auch mehr Macht als dieser nur leihweise anwesende Mensch aus einem anderen Chor.
Die unflätigen Bezeichnungen jedoch, die abfälligen Bemerkungen, schmutzigen Witze und zweischneidigen Komplimente verletzen, wie es wahrscheinlich sonst nur wirkliche, körperliche Attacken tun.
Kursteilnehmerinnen schildern, dass ihnen solche Verbalattacken eingefahren sind wie «ein Schlag in die Magengrube», als hätte der Verbaltäter ihnen tatsächlich zwischen die Beine gegriffen oder ihnen einen Zungenkuss aufgezwungen. Für solche Attacken braucht es nicht einmal das direkte Gegenüber der angegriffenen Person, das geht eventuell sogar durchs Telefon, via Glasfaserkabel um die halbe Welt! Die Verletzung durch Sprache ist jene, welche am weiträumigsten ausgeführt werden kann – und von daher kann die «Aura», die durch solche Verbalinjurien verletzt wird, kilometerweit reichen.
Wieder wird es leichter sein, einen wildfremden Menschen in seine Schranken zu weisen als den Werkmeister, der das junge Mädchen morgens mit einer erotisierenden Bemerkung begrüßt, die dieses ganz sicher nicht von ihm hören möchte. Von seinem Meister will ein Lehrling Informationen über die auszuführende Arbeit hören, Tipps, Hinweise, auch Kritik und Anerkennung für gemachte Leistungen.
Einen abhängigen Menschen, einen Schüler oder Lehrling, eine Nichte, Konfirmandin usw. sexuell mit Worten zu belästigen stellt einen eminenten Regelbruch dar. Die Regel der Ausbildung, Verwandtschaft oder spirituellen Betreuung erfordert nämlich eine