schlecht war der Ruf Neuköllns!
Aber in den letzten Jahren hat sich hier eine muntere Kreativszene und Clubkultur entwickelt, die dabei ist, dem Bezirk Mitte den Rang abzulaufen, was den Avantgardecharakter von Mode und Design, als auch die Lebendigkeit des Nachtlebens betrifft. Viele junge Musiker, Galeristen, Modemacher und andere Künstler aus der ganzen Welt haben hier ehemals leer stehende oder heruntergekommenen Ladenwohnungen renoviert und mit neuem Leben erfüllt. Bis vor kurzem fanden sie hier noch preiswerten Raum, um ihre Ideen umzusetzen. Es gibt viele kleine individuelle Läden und Cafés, romantische Spazierwege am Kanal und auch für das leibliche Wohl auf dem Rundgang ist gesorgt: Spezialitäten aus aller Welt werden in zahllosen Imbissen und kleinen Restaurants angeboten. Die kulinarische Weltreise ist erschwinglich und die Qualität meist gut, denn die Konkurrenz ist hier groß.
Der Reuterkiez mit gleichnamiger Straße und Platz verdankt übrigens seinen Namen dem Dichter Fritz Reuter, der wegen Majestätsbeleidigung lange Jahre in Festungshaft verbrachte und als einer der bedeutendsten Autoren von niederdeutschen Erzählungen mecklenburg-vorpommerscher Mundart bekannt wurde (z.B. „Onkel Bräsig“).
„Kiez“ ist ein Berliner Ausdruck für das Stadtviertel bzw. die Nachbarschaft, in der man zu Hause ist und sich auskennt. Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Slawischen und bezeichnete die Siedlungen, die den wehrhaften Burgen der Sorben vorgelagert waren. Mit Reuterkiez ist genauer das Gebiet zwischen Landwehrkanal, Sonnenallee, Kottbusser Damm und Weichselstraße gemeint.
Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich auf dem Wiesengelände um den Landwehrkanal am Maybachufer erste Gewerbebetriebe an. Die Einwohnerzahl stieg und zwischen Kanal und Kottbusser Damm entstanden Wohnhäuser und Kleingewerbeläden. Bis heute weist das Gebiet einen hohen Altbaubestand mit den charakteristischen Vorderhäusern, Seitenflügeln und Quergebäuden mit Gewerbehinterhöfen auf und gilt somit als typisches Berliner Altbauviertel, das auch für Berlin-Besucher reizvoll ist.
Der Kiezspaziergang ist eine kleine Reise in den Alltag, um hautnah zu erleben, wie man hier wohnen, arbeiten, einkaufen und seine Freizeit verbringen kann und wie sich der ehemalige Problemkiez, der regelmäßig durch die Medien geistert, entwickelt hat. Unsere Tour besticht weniger durch spektakuläre Sehenswürdigkeiten. Es ist vielmehr eine Reise in einen lebendigen multikulturellen Bezirk im Aufbruch, als auch durch eine lebendige Szene- und Clubkultur.
Wir steigen am U-Bahnhof Schönleinstraße B aus und biegen in die Bürknerstraße ein. Hier gibt es viele dieser kleinen Läden, Cafés, Galerien, Ateliers, Werkstätten etc., die jetzt so typisch für Kreuzkölln sind und die uns mit vielen kleinen Dingen der Wohn- und Alltagskultur erfreuen, z.B. Mode- und Schmuckdesign, handgemachte Hüte, Bücher, Trödel, Fahrrad- und Kanuverleih, Kunstinstallationen etc., alles individuell, „made in Berlin“, weitab vom Massenkonsum der großen Einkaufszentren.
In der Bürknerstr. 26 ist das Kauf- und Kaffeehaus „Bonifazius“. Hier gibt es wunderbaren Trödel zu fairen Preisen, Antikes und Schönes, Raum zum Herumstöbern und Entdecken. Ein prima Tipp für alle, die auf der Suche nach Berlin-Mitbringseln auch noch entspannen und einen Kaffee (oder Bier) trinken wollen.
Sind wir an einem Dienstag oder Freitag hier, zwischen 11 und 18 Uhr, biegen wir links am Ufer des Landwehrkanals ab, um uns den bekannten türkischen Markt C am Maybachufer nicht entgehen zu lassen. Er ist inzwischen zum Treffpunkt für junge Leute geworden, vor allem im Sommer mit Happening-Stimmung auf der übers Wasser vorgelagerten Holzterrasse. Orientalisches Markttreiben mit großem Angebot an mediterranen Lebensmitteln trifft auf Bio- und Bekleidungsstände, viele leckere Imbisse, manchmal Livemusik etc.
Samstags findet hier am Maybachufer ebenfalls ein besonderer Wochenmarkt statt: Neuköllner Stoff (11 bis 17 Uhr) mit Stoffen und Kurzwaren, Kunstgewerbe und Handwerk, Designartikeln, Lebensmitteln und Spezialitäten, Imbiss und Weinbar am Wasser.
Sollten wir an einem Sonntag hier sein (mit Ausnahme der Winterpause von Anfang Dezember bis Mitte/Ende März), biegen wir am Ende der Bürknerstr. auf die rechte Kanalseite ab. Hier, zwischen Liberda- und Nansenstr., direkt am Ufer, findet der zur Zeit coolste Flohmarkt Berlins, der Nowkölln Flow D, statt. Zu Unrecht nennen Spötter ihn schon „die Seidenstraße“, denn außer einem großen Angebot an Klamotten, Schuhen und Accessoires gibt es jede Art von privater Second Hand: Hauströdel, Bücher, Spielzeug, Kleinmöbel, original handmades und Wohnaccessoires, ein großes kulinarisches Angebot, Livemusik, Partystimmung schon am frühen Nachmittag (10 – 18 Uhr). Die Preise sind so niedrig, dass man sich schon fast schämt, noch weiter herunterzuhandeln.
Unser eigentlicher Stadtrundgang führt uns jedoch rechts von der Bürkner- in die Friedelstraße. Hier geht der bunte Reigen kleiner Cafés, Galerien, Trödler, Buchläden, Eiscafés, Modedesigner etc. weiter. In der Friedelstr. 28 war bis vor kurzem noch der Kulturverein und Club „Kinski“, wo um die Jahrtausendwende die neue Entwicklung des Kiezes, zumindest nachtclubmäßig, begann. Nostalgiker erinnern sich gerne: zu einer Zeit als es hier nur Ödnis und türkische Vereinskneipen gab, öffnete ein Verein mit Flüsterkneipencharakter seine Pforten. Das Mauerwerk innen war unverputzt, ein riesiger verrosteter Tresor vom Juwelier-Vorgänger dominierte die Bar, das selbstgebaute Klo konnte man nur im Kriechgang erreichen, was der Beliebtheit beim Publikum, d.h. überwiegend trinkfesten Individualisten und Menschen, die gern in geschlossenen Räumen rauchen, jedoch keinen Abbruch tat. Leider bleibt hier nichts als einen Nachruf auf diesen schönen Club zu schreiben, der richtungsweisend und stilprägend für die Clubkultur dieses Kiezes war. Im Sommer 2015 musste er, wie andere Szenepioniere, schließen (s. auch Exkurs: Stadtentwicklung und Quartiersmanagement).
Wir biegen nun links in die Pflügerstraße ein und dann gleich rechts in die Reuterstraße, Namensgeberin des Kiezes. An manchen Orten offenbart sich uns hier der Wandel des Viertels, zum Beispiel an der Hausnummer 39: ein Original-Schild aus den 60er Jahren, „Damensalon“, verrät, was hier früher war. Aus der „Modernen Haarpflege“ ist inzwischen ein Ausschank geworden.
Ein Stückchen weiter ist der Reuterplatz mit einem kleinen Park mit rundem Springbrunnen und einem mit Rosen berankten Laubengang, der sich im Sommer prima für eine Siesta eignet.
Kurz darauf sind wir Ecke Reuterstr./Weserstr. angelangt. Unser Spaziergang führt uns nach links in die Weserstraße, einer der Hauptaktionsachsen des Kreuzköllner Nachtlebens mit zahlreichen Bars, Kneipen und Restaurants. Aber auch tagsüber ist es hier ganz nett zum Bummeln.
Wenig später biegen wir rechts in die Pannierstraße ein und steuern auf die Sonnenallee zu. Auf diesem kurzen Abschnitt kann man praktisch eine kulinarische Weltreise antreten: von japanischen Maultaschen über Tex-Mex, Döner, französischer Croissanterie, italienischer Pizzeria, australischem Frühstück bis hin zum amerikanischen Burger.
An der Sonnenallee ist Schluss mit den szenigen Läden und ein komplett anderer Abschnitt von Neukölln beginnt, den man mit Fug und Recht „Klein-Arabien“ nennen könnte, unschwer zu erkennen an entsprechenden Schriftzeichen über den Läden und in den Auslagen. Es gibt Handyläden, Frisöre, Supermärkte, Bäckereien, Imbisse, Geschenk- und Bekleidungsgeschäfte, Shisha-Lounges, Buchläden etc. Ein guter Tipp auf diesem Abschnitt ist die Konditorei „Umkalthum“, benannt nach der legendären ägyptischen Sängerin, der „Nachtigall vom Nil“. Sie bietet eine fantastische Auswahl an arabischem Gebäck und Süßigkeiten an, besonders lecker sind die „Babas au rhum“. Dieser Straßenabschnitt hat besonders seit dem Sommer 2015 durch die Flüchtlingsbewegung großen Zulauf erfahren, ist ungeheuer geschäftig und brodelt vor Aktivität.
Wir laufen weiter bis zur Weichselstraße, biegen dort wieder rechts ab und stellen fest, dass sich der urbane Mikrokosmos hier erneut wandelt, wieder in Richtung Alternativszene.
Doch unser eigentliches nächstes Ziel ist die im Jugendstil erbaute IDEAL-Passage E, Weichselstr. 8a - f, die sich über mehrere Hinterhöfe bis zur Fuldastraße hinzieht. Die IDEAL-Passage, Häuser und Grünanlagen mit Licht, Luft und Sonne zum gesunden Wohnen für die Arbeiterschaft, wurde in den Jahren 1907/08 nach Plänen der Rixdorfer Architekten Willy und Paul Kind erbaut. Bauherren des mittleren Teiles der Passage waren die Allgemeine Ortskrankenkasse Rixdorf und der äußeren, an Fulda- und Weichselstr. gelegenen Gebäudeteile, die Rixdorfer