J. U. Gowski

4467 Tage oder Der Rache langer Atem


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Er gab Gas und schoss rückwärts aus der Parklücke auf die Straße.

      Der große Kerl sah ihm schweigend nach. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Peter Lohmann wusste während er auf das Gaspedal trat, die Geschichte war noch nicht ausgestanden.

      Ein alter Skoda bog in die Immanuelkirchstraße. Die grünleuchtende Uhr des Autoradios zeigte 22.01 Uhr. Der Mann hinter dem Lenkrad sah nach hinten. Seine Frau schlief, wie auch die kleine Tochter neben ihr in ihrem Kindersitz. Er lächelte. Geschafft. Er hatte sich erst Sorgen gemacht wegen der langen Fahrt. Zweifel gehabt onb es eine gute Idee gewesen war, in einem Ritt nach Berlin zurückzufahren. Und dann noch der starke Platzregen kurz vor Berlin. Aber jetzt war alles gut. Sie waren gleich vor ihrem Haus und es nieselte nur noch. Das Kopfsteinpflaster der nassen Straße schimmerte wie von einem Ölfilm überzogen. Die vereinzelten Straßenlaternen sprenkelten mattgelbes Licht auf die Fahrbahn. Die bröckelnden Hausfassaden wurden vom Regen und der Dunkelheit fast verschluckt. Das Viertel veränderte sich. Das Morbide, das Rissige, was ihn immer fasziniert hatte, würde bald endgültig aus dem Straßenbild verschwinden. Es war nur eine Frage der Zeit, dachte er wehmütig. Die Häuser wurden saniert, neu verputzt. Sie bekamen frische Farbe.

      Langsam ließ er den Wagen bis zur Höhe ihrer Haustür auf der anderen Straßenseite rollen und hielt dann in der zweiten Reihe. Er machte den Motor aus und beugte sich nach hinten zu seiner schlafenden Frau. Die Tochter machte saugende, schmatzende Geräusche. Sie hatte sich die zwei mittleren Fingern der rechten Hand in den Mund gesteckt und nuckelte daran. Der kleine und der Zeigefinger rahmten dabei die Nase ein. Andere Kinder nahmen den Daumen, sie wollte mehr. Zärtlich sah er beide an. Dann streichelte er leicht das Knie seiner Frau. Sie schlug die Augen auf, sah sich irritiert um und fragte benommen: »Sind wir schon da?«

      »Ja«, antwortete er leise. »Du solltest die Kleine nehmen und schon nach oben ins Bett bringen. Ich lade inzwischen das Gepäck aus.«

      Sie nickte verschlafen und rieb sich mit dem Handrücken über den trockenen Mund, wie um etwas wegzuwischen, was da nicht hingehörte. Wie er diese Geste liebte. Er stieg aus, lief um das Auto und öffnete die hintere Tür. Nach dem lösen der Gurte des Kindersitzes hob er seine zweijährige Tochter heraus. Den Schmatzer auf die Wange nahm die Kleine nur murmelnd zur Kenntnis. Die Wangen waren rot und ihre blonden Locken leicht verklebt vom Schweiß. Seine Frau war inzwischen auch ausgestiegen, gab ihm einen Kuss und nahm ihm die Tochter ab. Leicht tätschelte sie den blonden Schopf und flüsterte etwas Beruhigendes. Die Kleine kuschelte den Kopf an ihre Schulter, steckte wieder die zwei Finger in den Mund und schlief weiter.

      »Und schaffst du das Ausladen allein?«

      »Ja sicher! Ich muss ja auch noch einen Parkplatz suchen und das kann eine Weile dauern.« Er machte ein betont verzweifeltes Gesicht.

      Sie lachte leise. Sie wusste, wie er die ständige Parkplatzsuche hasste. Sie gab ihm einen Kuss und drehte sich dann, mit dem Kind auf dem Arm, um. Sie wollte gerade die Straße überqueren, als sie von einem Lichtkegel erfasst wurde und erstarrte. Ein Auto bog mit hoher, zu hoher Geschwindigkeit in die Straße ein, fing an zu schlingern und tuschierte den parkenden Skoda. Glas splitterte. Metall kratzte auf Metall. Der Wagen erfasste Frau und Kind. Beide wurden durch die Luft gegen eine Laterne geschleudert. Der Wagen gab Gas und bog dann quietschend in die Greifswalder Straße ein.

      Dann Stille!

      Später erzählten andere, Gäste aus dem indischen Lokal und andere Zeugen, dass er da stand, mit zum Schrei aufgerissenem Mund aus dem kein Laut kam. Dass er den Autotyp und die Autonummer nannte. Und dass allen alles furchtbar leidtat.

      Drei Stunden später war das Leben für ihn vorbei. Da erfuhr er durch zwei mitfühlende Polizisten, dass seine Tochter sofort tot gewesen und seine Frau auf den Weg ins Krankenhaus verstorben war.

      Fünf Tage später begrub man die Urnen mit der Asche seiner Frau und seiner Tochter unter einem Bergahorn in einem Bestattungswald in der Schorfheide. Alte Buchen und noch ältere Eichen mit ihren hohen Wipfeln spendeten ihm Trost. Sie überragten die jungen Bäume, wie diesen Bergahorn. Er würde versuchen, so oft wie möglich hier zu sein und sich zu ihnen zu setzen. Versuchen, ihre Nähe zu spüren, sehen wie der Ahorn wuchs. Man hatte ihn vom Dienst freigestellt. Sie haben gesagt: Komm wieder, wenn es dir besser geht. Lass dir Zeit. Lass die Wunde heilen. Als ob so etwas heilen könnte wie ein Schnupfen.

      Ein halbes Jahr später stand er im Zimmer. In der Hand das amtliche Schreiben welches er in seinem Briefkasten gefunden hatte. Es war es nicht das, was er erwartet hatte. Er musste sich setzen. Noch einmal las er die Mitteilung. Sie war förmlich und unpersönlich. Umschlag und Papier waren grau. Die Worte verschwammen vor seinen Augen. Nur ein Satz hatte sich klar und deutlich in sein Hirn gebrannt: Das Verfahren gegen unbekannt wird eingestellt.

      Zitternd legte er das Schreiben auf dem Schreibtisch ab. So nennt man es also wenn der Tod zweier Menschen ungesühnt bleibt, der Fall nach einem halben Jahr zu den Akten gelegt wird. Er atmete tief durch, unterdrückte den Wunsch laut zu Schreien. Das sollte es also gewesen sein?

      Der BMW war zwei Tage nach dem Unfall am Alexanderplatz abgestellt gefunden worden. Der Halter, ein hoher Siemens-Manager, hatte ihn als gestohlen gemeldet. Er konnte sich noch gut an die zuversichtlichen Worte des uniformierten Polizisten erinnern: den kriegen wir. Und dann... Außer den Fingerabdrücken von dem Halter und seinem Sohn, sind keine weiteren Spuren in dem Wagen gefunden worden. Der Verdacht, der Sohn des Halters wäre der Fahrer gewesen bestätigte sich nicht. Der Vater sagte aus, sein Sohn wäre den ganzen Abend zu Hause gewesen. Und die Polizei glaubte ihm. Ein weiterer Verdächtiger konnte nicht ermittelt werden.

      Der Mann rang mit den Tränen. Er war sich sicher, hätten die Polizei nach einem Taxifahrer gesucht, der zwischen 22:10 und 22:30 Uhr am Alex einen Fahrgast aufgenommen hat, hätte sich das Alibi, das der Vater seinem Sohn gab, in Luft aufgelöst. Er musste ein Taxi genommen haben. Wie wäre sonst der Sohnemann wieder in den Grunewald gekommen? Aber sie hatten es erst gar nicht versucht.

      Er stand auf und fing an mit unsicherem Schritt durch die Wohnung zu laufen. Überall standen vollgepackte Kisten. Er hatte sich vor einem Monat eine neue Wohnung gesucht. Eine kleinere. Hier hielt er es nicht mehr aus. Die Erinnerungen lähmten ihn. Er hatte nicht vor viel mitzunehmen. Die meisten Möbel hatte er schon weggegeben. Hier lag nur noch eine Matratze zum schlafen auf dem Boden und der Schreibtisch. Im Flur, vor der letzten Kiste blieb er stehen. Obenauf lagen drei gerahmte Fotos. Er hob sie hoch. Das erste war ein Porträt seiner Tochter, fröhlich lachend. Das andere zeigte seine Frau mit zerzaustem Haar, wie Sie versonnen ihre sommersprossige Nase in den Wind hält. Und dann noch das letzte gemeinsame Foto. Fotografiert in einer Trattoria in Campiglia Marittima in der Toskana bei unserem letzten Urlaub. Der Tisch mit der üblichen rot und weiß karierten Tischdecke. Darauf ein Korb mit Brot und einer halbvollen Karaffe Rotwein. In die Kamera lachend, stießen er und seine Frau mit einem Glas roten Hauswein an und ihre Tochter zweihändig mit Apfelsaft. Er erinnerte sich noch, wie seine Frau den Kellner gebeten hatte sie zu fotografieren. Sie konnte das. Plötzlich übermannte ihn die Schwäche. Die Knie gaben nach. Er rutschte mit dem Rücken an die Wand gelehnt langsam auf den Boden. Ein Schluchzer drang gequält aus seiner Kehle. Dann fing er an zu weinen.

      

       Gegenwart – Samstag 7. Mai

      

      1.

      Frau Jacobs ging ihrer abendlichen Lieblingsbeschäftigung nach. Sie sah aus dem Fenster, ihren runden Kopf auf die Hände gestützt. Der Blick ihrer mausgrauen Augen schweifte unablässig über das sich bietende Panorama. Sie hatte es sich mit einem Sofakissen unter ihren dicken Ellenbogen bequem gemacht. Häufig stellte sie Vermutungen über das gesehene an, erdachte sich kleine Geschichtchen. 67 Jahre und immer noch scharf sehende Augen wie ein junges Mädchen. Mit einem Anflug von Stolz lächelte sie vor sich hin. Ihr Mann schaute fern und sie eben gern aus dem Fenster. Sicher, man könnte auch was anderes machen, zum Beispiel reden. Doch irgendwie hat sich das Schweigen in ihrer 45jährigen Ehe