J. U. Gowski

4467 Tage oder Der Rache langer Atem


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brauchte er über eine halbe Stunde. Schulterzuckend stellte er fest, er hatte dazu überhaupt keine Lust. Auch so eine neue blöde Angewohnheit von ihm, dieses Achselzucken. Ein Zeichen der Unentschlossenheit, die sich bei ihm eingeschlichen hatte. Trotzdem, er hatte keine Lust auf Eile. Wenigstens hatte er es versucht, redete er sich ein und lächelte schwach. Aus der Küche kamen blubbernd zischende Geräusche. Ein sicheres Zeichen, dass der Kaffee gleich fertig war. Er zog die Schreibtischschublade auf und entnahm das Foto, wie so häufig in den letzten Tagen. Er betrachtete es lange. Zärtlich strich er mit den Fingern darüber.

      Der Hund zog heftig an der Leine und wackelte aufgeregt mit seinem Hinterteil. Der Mann, der die Leine hielt, zündete sich eine Zigarette an. Verärgert nahm er einen heftigen Zug. Wieder hatte Marianne es geschafft, ihn dazu zu bringen mit dem Hund Gassi zugehen. Es reichte zu sagen: wenn du die Füße unter meinen Tisch.... Er verstand die Drohung. Der Hund war ein hässlicher Köter und ihr ein und alles. Es war ihm peinlich, mit diesem Vieh gesehen zu werden. Er konnte ihn nicht leiden, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Dieses dürre Gestell auf den dünnen Beinen, Glubschaugen und immerzu das Gekläffe. Am Rondell ließ er ihn von der Leine und schon tobte dieser blöde Köter laut kläffend los. Er setzte sich auf die Bank, neben der Rutsche. Es kam für ihn der schönste Teil des Tages. Der Hund war weg und er reckte das Gesicht mit geschlossenen Augen, dem wärmenden Sonnenlicht entgegen. Die Sonne kroch langsam zwischen den Hochhäusern empor. Alles wirkte still und friedlich. Er konnte seinen Gedanken nachhängen, seinen Träumen, seinem was-wäre-wenn. Er wusste natürlich, dass es ein was-wäre-wenn nie geben würde. Um das zu erkennen brauchte er noch nicht einmal einen seiner klareren Momente. Das unbestimmte Gefühl, vom Leben weniger zu bekommen als ihm eigentlich zu stand, begleitete ihn schon lange. Solange wie er zurückdenken konnte. Seine Entscheidung zu Marianne zu ziehen, war das Eingeständnis seiner Niederlage. Das Wissen, dass er an seiner Endstation angekommen war. Er hatte sich in eine Abhängigkeit begeben, aus der er sich nicht mehr befreien konnte. Sie hatte das Geld, die Wohnung und kochte für ihn das Essen. Er hatte nichts. Außer seine Tabletten, die ihn davor bewahrten in einer Anstalt als Fürst Romanow dahin zu vegetieren. Per Attest verschrieben von einer Ärztin, die hübsch und zu dem auch noch verständnisvoll war. Er hatte das Gefühl, sie nahm Anteil an seinem Leben. Der Gegensatz zu Marianne, der Frau, bei der er den Rest seines Lebens zu verbringen hatte. Leider sah er die Ärztin immer nur dann, wenn die Tabletten alle waren oder er vergessen hatte sie zu nehmen oder einfach nicht nehmen wollte. Wenn er sich entschloss aus dem Nebel zu treten.

      Er sah auf die Uhr. Es war eine viertel Stunde her, als er den Hund von der Leine gelassen hatte und er war bisher nicht wieder aufgetaucht. Sicher er könnte ihn rufen. Aber er hörte sowieso nicht auf ihn. Und außerdem war ihm der Name peinlich: Adonis. Es war ihm unverständlich, wie man so ein hässliches Tier Adonis nennen konnte. Er stand von der Bank auf und lief in die Richtung, wohin der Hund verschwunden war. Er ging ein paar Meter, konnte ihn aber nicht entdecken. Dann hörte er das aufgeregte Gekläffe. Es kam aus der Böschung weiter vorn, da wo die jungen Birken standen. Er näherte sich dem Gebelle, konnte aber nichts erkennen. Er überlegte, ob er versuchen sollte ihn zu rufen. Er ließ es bleiben. Scheißköter brabbelte er vor sich und kämpfte sich dabei durch das Gebüsch. Als das Gebüsch sich teilte, sah er dort die Gestalt liegen. Er ging vorsichtig näher, griff sich den Hund und leinte ihn an. Dann erkannte er sie und wusste im selben Augenblick: Es war vorbei.

      3.

      Hauptkommissar Salvatore Hieronymus Koslowski öffnete das Fenster in seinem Wohnzimmer seiner Hinterhauswohnung, nur um es gleich wieder zuschließen. Die stickige Hitze stand schon jetzt unerbittlich im Hof. Er stöhnte auf. Was soll das bloß im August werden, grummelte er. Seine beiden alten Katzen strichen ihm mauzend um die Beine. Sie wollten was zu fressen haben. Er ging in die Küche und kramte aus dem unteren Küchenschrank eine Dose Katzenfutter hervor. Die Graue beäugte sein Hantieren misstrauisch aus nächster Nähe, wie um zu sagen: nimm die Richtige. Anders der rote Kater, der postierte sich gleich in froher Erwartung schnurrend vor dem Futternapf. Nachdem er den Katzen das Futter gegeben hatte, ging er ins Bad.

      In dem alten fast blinden Spiegel über dem gesprungenen Waschbecken sah er das ganze Elend. Unter dem wirren, inzwischen angegrauten kurzen Haar, das sich schon lichtete, ein Gesicht mit einem schmalen Mund und mit zunehmenden Alter kleiner werdenden, blaugrauen Augen. Seine Lippen hatten im Mundwinkel diesen leicht verbitterten Hang nach unten. Kein Wunder, wenn man sich eine Zweizimmerwohnung allein mit zwei Katzen teilte, dachte er.

      Nach der morgendlichen Prozedur, die er widerwillig abarbeitete, zog er sich an und ging wieder in sein Arbeits- und Wohnzimmer. Er schaltete seinen Laptop an, um Mails abzufragen. Es war 10.00 Uhr. Die Katzen lagen auf der Fensterbank und schliefen. Wider besseren Wissens ging er zum Kühlschrank, um zu sehen, ob sich was Essbares darin befand. Er öffnete die Tür. Außer einer Flasche Weißwein und Licht befand sich nichts darin. Den Weißwein hatte er vor drei Jahren geschenkt bekommen. Seitdem lag die Flasche da und sah sich die verschiedenen Füllstände des Kühlschranks an.

      Gut, dachte Koslowski, dann eben doch gleich zu „Ecki“ und verzichtete damit auf seinen morgendlichen Kaffee. Er setzte sein Berlin Thunder Basecap auf und zog die inzwischen blassgrüne Parkajacke über, ohne die er nie die Wohnung verließ. Seine erste Anschaffung vom Begrüßungsgeld nach der Wende. Gekauft in einem Army-Shop in der Wilmersdorfer Straße. Er fand es bequemer, Schlüsselbund und Brieftasche in der Jacke zu haben, als alles in der Hose. Er schloss die Wohnungstür hinter sich. Auf der Straße empfing ihn die Hitze. Es sollte Anfang Mai noch nicht so heiß sein, dachte er. Die Sredzkistraße lag noch ruhig da. Musik klang leise aus einem offenen Fenster. Irgendwo schepperte Geschirr. Für Koslowski die üblichen Sonntagmorgengeräusche die er seit seiner Kindheit kannte und liebte. Nicht mehr lange und die ersten Gerüche von warmen Mittagessen würden durch die offenen Fenster ziehen. Er ging an dem afrikanischen Restaurant vorbei. Vor einem Jahr war es noch ein amerikanisches Diner mit einer Tex-Mex Speisekarte. Noch früher, zu DDR Zeiten, eine Werkstatt für Fotoapparate. Der Schuster, ein paar Schritte weiter, hatte vergessen das Schild ›bin gleich wieder zurück‹ von seiner staubigen Eingangstür abzuhängen. Die Schusterwerkstatt war auch ein Relikt aus längst vergangenen Tagen und seit ein paar Jahren geschlossen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis hier eine Szenekneipe einziehen würde. Koslowski bog er in die Husemannstraße ein. Die Platanen dort boten schattige Oasen, wo der Wind ein wenig kühlte. Das Licht durchdrang das Grün der Bäume und sprenkelte helle Flecken auf die Straße. Er lief an dem asiatischen Restaurant Ostwind vorbei, rüber auf die andere Straßenseite. Eckis Pub lag in der Husemannstraße, ungefähr hundert Meter vor dem Kollwitzplatz. Die einzige Kneipe im Kollwitzkiez, die man noch als solche bezeichnen konnte. Bis zur 750 Jahrfeier Ost-Berlins ein Gemüseladen, wurde es dann als Café neu eröffnet. Die ganze Straße wurde damals zu diesem Anlass restauriert. Der alte Gemüseladen passte da nicht mehr ins Bild. Nach der Wende änderte das Café den Namen und das Angebot. Es wurde ein Irish Pub. Der Wirt blieb. Hier konnte Koslowski in Ruhe sein Bier trinken, ohne von Hipstern zugetextet zu werden. Man durfte sogar mürrisch sein und schweigen. Und zugegeben, das tat Koslowski am liebsten.

      Ecki hatte schon seine Lederschürze um und war gerade dabei die Stühle und Tische herauszustellen. Es war noch etwas Zeit, bis er öffnete. Er sah nicht aus wie ein typischer Kneipier, war schlank und von mittlerer Größe. Das unauffällige Gesicht rahmte ein sorgsam gestutzter Vollbart ein, der langsam ergraute. Auf der schmalen Nase saß eine Kassengestellbrille. Für Koslowski das Abbild eines ehemaligen Offiziers, der sich nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Armeedienst den Traum von einer Kneipe verwirklicht hatte. Vielleicht war es ja auch so. Koslowski hatte ihn nie gefragt. Ecki bemerkte Koslowski, trat auf ihn zu und begrüßte ihn mit Handschlag. Sein angedeutetes Grinsen sollte wohl Freude zeigen.

      »Geh schon rein, Sal. Dein Bier kommt gleich oder willst du draußen sitzen?«

      Koslowski runzelte nur die Stirn.

      »Ist ja gut, war nur ’ne Frage.«

      Als Koslowski schon halb in der Eingangstür verschwunden war, rief Ecki fragend hinterher: »Harp oder Murphys?«

      Koslowski hielt zwei Finger hoch und ging hinein. Er warf die Parkajacke über einen der