J. U. Gowski

4467 Tage oder Der Rache langer Atem


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Aufgaben nach, routiniert und ruhig. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Koslowski stellte sich abseits und beobachtete das stumme Treiben. Er konnte nur warten. Haller fotografierte das Mädchen aus allen Blickwinkeln. Ein Kollege der Spurensicherung hatte Markierungen mit Nummern da aufgestellt, wo vermeintliche Spuren zum Auswerten zu sehen waren. Ein anderer vermass den Tatort. Ein dritter suchte die Umgebung bei den Sträuchern ab. Die Leiterin des Spurensicherungsteams, eine dralle Mittvierzigerin mit grauem, kurzem Pferdeschwanz und wachen Augen hockte sich zu der Kinderleiche, nach dem Paul Haller fertig war und ließ ihren Blick über das tote Kind schweifen. Sie winkte einen ihrer Kollegen zu sich heran, einen schlaksigen jungen Mann. Gemeinsam drehten sie die Leiche um.

      Koslowski starrte zu ihnen hinüber. Meyerbrinck sah ihn an und sagte: »Die Kleine scheint wirklich was in der Hand zu haben.«

      Wenig später packte das Team die Sachen zusammen. Paul Haller verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken. Koslowski wusste, er würde die Fotos heute Nachmittag auf dem Tisch haben.

      Die Leiterin kam auf ihn zu. »Wir haben so weit alles gesichert. Mal sehen, was davon verwertbar ist.«

      Sie hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme. Aus der Art, wie sie das R hart rollte, konnte Koslowski schließen, dass ihr Kinderbett nicht in Berlin gestanden hatte.

      »Ein paar Zigarettenkippen, können aber schon älteren Datums sein. Ein paar Fußspuren, die sich aber nicht wirklich identifizieren lassen und ein Knopf in ihrer Hand.«

      »Na dann ist der Fall ja schon so gut wie gelöst«, meinte Meyerbrinck sarkastisch.

      »Wenn sie das so sehen«, erwiderte sie humorlos. »Vielleicht war es nur ein Unfall. Genickbruch.«

      »Stellt sich bloß die Frage, wie sie mit gebrochenem Genick noch so weit laufen konnte und dabei noch eine Sandale verliert«, konnte sich Meyerbrinck nicht verkneifen.

      Sie ging nicht darauf ein.

      »Der Todeszeitpunkt war wahrscheinlich gestern am frühen Abend. Genaueres wird die Obduktion durch die Gerichtsmedizin ergeben. Noch Fragen?«

      Sie schaute die beiden auffordernd an, den Mund so fest verschlossen, dass ihren Lippen nicht zu sehen waren. Als wollte sie sich verbieten, noch weitere Details preiszugeben. Aber auch Koslowski und Meyerbrinck schwiegen.

      »Na denn. Wenn doch noch Fragen sind, sie wissen ja, wo sie mich finden«.

      Sie drehte sich um. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, stapfte sie davon.

      »Was war das denn?«, fragte Meyerbrinck Koslowski.

      Der zuckte gleichgültig die Schultern.

      »Wie sieht es mit der Identität aus? Haben wir schon ein paar Beamte losgeschickt, um die Häuser abzuklingeln?«

      »Ja, ist schon eingeleitet. Ich hoffe, sie kommen bald mit ein paar Resultaten zurück. Was mich irritiert ist, dass wir noch keine Eltern zu dem Kind haben.«

      »Ja, das ist merkwürdig.«, stimmte Koslowski ihm zu »Da können wir wohl erst mal nur abwarten. Am besten wir fahren ins LKA. Da schauen wir mal, was uns zu diesem Fall auf den Tisch flattert. Der Leichenwagen ist auch schon eingetroffen.«

      Koslowski nickte in Richtung Theater, wo der grüne Leichenwagen der Berliner Rechtsmedizin vorfuhr.

      »Wollen wir nicht lieber auch ein paar Klingeln betätigen?«, fragte Meyerbrinck.

      »Wenn du weißt, welche Haustüren unsere Kollegen schon abgearbeitet haben, gerne. Ansonsten lass uns aufbrechen. Wir können hier nicht mehr viel tun.«

      Koslowski sah noch einmal zu dem toten Mädchen. Sieben, acht Jahre und dann einfach vorbei. Koslowski schüttelte verbittert den Kopf.

      6.

      Als sie zwei Stunden später in der Keithstraße ankamen, sie hatten auf Drängen Koslowskis noch an einem Imbiss gehalten, empfing sie der Wachtmeister vom Dienst mit kurzatmiger Stimme: »Und habt ihr schon was?«

      Er war ein verschwitzter übergewichtiger Mann von Mitte dreißig. Nach der Gesichtsfarbe zu urteilen, mit zu hohem Blutdruck. Bei dem Bauchumfang kein Wunder, dachte Koslowski. Er gab ihm eine Lebenserwartung von nicht mal fünfzig Jahren.

      »Nein«, antwortete Meyerbrinck.

      »War sicher einer von diesen Ausländern, davon haben wir ja jetzt reichlich in Berlin«, bemerkte der Dicke abfällig. »Dort ist bestimmt eine Flüchtlingsunterkunft in der Nähe.«

      Koslowskis Augen funkelten gefährlich. Er wollte sich erst beherrschen, doch dann platzte es aus ihm heraus: »Von welchem Dorf kommst du denn? Immer schön die Fremden nicht rein gelassen bei euch. Hast du deine Cousine oder deine Schwester gevögelt und dann geheiratet?«

      Das Gesicht des Wachtmeisters lief bedrohlich rot an. »Willst du was in die Fresse, Koslowski?«

      »Ja, komm her du Arschloch!«

      Meyerbrinck stellte sich zwischen die beiden und schob Koslowski mit der Hand ein Stück in den Flur.

      »Jetzt ist gut. Wir haben andere Sorgen.«

      »Scheiß Nazi!«, grummelte Koslowski.

      »Auch Polizisten dürfen blöd sein. Deswegen ist er noch lange kein Nazi.«, versuchte Meyerbrinck zu beschwichtigen.

      Vergeblich.

      »Bist du da sicher?« Koslowski warf Meyerbrinck einen bösen Blick zu und sagte, während sie in Richtung ihres Büros gingen: »Zu DDR Zeiten gab es ja angeblich keine Nazis bei uns, aber einen schönen Spruch: Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform!«

      Meyerbrinck lachte auf. Das Büro war groß und geräumig. Ihre beiden Schreibtische hatten sie mitten im Raum zu einer Insel zusammengestellt. Koslowski warf die Jacke achtlos auf seinen Stuhl und schaute zu dem Regal mit den Ablagefächern. In der Ablage warteten schon zwei große Umschläge. Einer enthielt die Fotoausdrucke vom Tatort. Der andere die Liste und den vorläufigen Bericht der am Tatort sichergestellten Spuren.

      Koslowski reichte Meyerbrinck den Umschlag mit den Fotos. Er selber schob die Jacke auf dem Stuhl etwas beiseite, setzte sich an seinen Schreibtisch, und fing an die Liste zu studieren. Meyerbrink holte die Fotos aus dem Umschlag, sah sie sich an. Dann ging er zur Pinnwand und heftete die dort an. Auf der einen Seite die Fotos von dem Mädchen, auf der anderen Seite die der aufgenommenen Spuren. Er trat ein paar Schritte zurück, um noch einmal das ganze zu begutachten. Koslowski stand auf und trat neben .

      »Wir haben nicht wirklich viel, oder?«

      Meyerbrinck schüttelte den Kopf.

      Das Telefon klingelte. Koslowski ging zurück zum Schreibtisch und hob das Mobilteil hoch, während er auf die Rufannahmetaste drückte.

      »Koslowski«, brummte er in den Hörer. Am anderen Ende der Leitung hielt man sich kurz. Koslowski war es recht. Ein kurzer Grunzer zum Abschied, dann legte er auf.

      »Die Mutter. Sie ist aufgetaucht.«

      Er griff sich seine Parkajacke und ging zur Tür. »Wollen wir?«

      Die schaulustige Menge am Thälmann-Park hatte sich inzwischen aufgelöst. Sie liefen den Weg hoch bis zu dem Hauseingang, vor dem ein uniformierter Polizist stand, um sie in Empfang zu nehmen. Er deutete kurz nach oben. »Im 4. Stock, eine Kollegin ist bei ihr. Klingelt bei Ankert.«

      Sie betraten den Hausflur. Der war schmal mit weißen Wänden. Ab und zu eine kleine Krakelei. Eine noch schmalere Treppe mit einem Eisengeländer das vibrierte, wenn man daran wackelte, führte nach oben. Ihre Schritte hallten beim Hinaufsteigen der Treppe.

      »Sehr hellhörig hier«, stellte Meyerbrinck fest und dachte: typisch Neubau. Im vierten Stock angekommen, musste Koslowski erst einmal etwas durchatmen. Meyerbrinck schmunzelte. Obwohl er mehr wog, war der Aufstieg an ihm fast spurlos vorübergegangen, wenn man mal von den Schweißflecken am Hemdkragen absah.

      Koslowski