J. U. Gowski

4467 Tage oder Der Rache langer Atem


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im Overall, der der Polizistin den Unterschied zwischen Spachtelmasse und Gips erklärte. Es schien sie aber nur mäßig zu interessieren. Koslowski nickte den beiden zum Abschied kurz zu und lief dann die Straße hinunter.

      5.

      Es waren ungefähr zehn Minuten Fußweg von der Marienburger bis zur Danziger Straße. Aus der Winsstraße kommend bog er nach rechts in die Danziger ein und überquerte sie. Nach ca. hundert Metern kam er an das Tor, das einer Stadtmauer nachempfunden war. Es hatte sich schon eine Meute neugieriger Gaffer angesammelt, die von einem flatternden Absperrband und drei uniformierten Polizisten zurückgehalten wurden. Koslowski zückte mit der einen Hand seinen Ausweis, mit der anderen schob er ein paar Schaulustige beiseite, um an die Absperrung zu gelangen. Einer der drei Streifenpolizisten, ein junger Mann mit einem knabenhaften rotfleckigen Gesicht, ließ ihn passieren.

      »Wo ist es?«, fragte Koslowski.

      Wortlos wies der Junge in die seitliche Richtung. Die ganze Sache schien ihn sehr mitzunehmen. Koslowski klopfte dem jungen Polizisten auf die Schulter, hoffte, dass der seine Unschuld noch eine Weile bewahren konnte und ging dann in die angegebene Richtung. Der Weg führte am ›Theater unter dem Dach‹ vorbei eine kleine Steintreppe die Anhöhe hinauf. Links davon befand sich das Wohnviertel mit den Hochhäusern. Er sah in die Höhe und stellte neidisch fest, von den obersten Etagen hatte man bestimmt einen herrlichen Blick über Berlin. Rechts begann ein breiter Gebüschstreifen, der das Viertel von der Danziger Straße abschirmte.

      Oben angekommen empfing ihn Meyerbrinck mit blassem Gesicht.

      »Wo liegt sie, Tom?«, fragte Koslowski.

      »Weiter hinten.« Meyerbrinck wies unbestimmt in die Richtung. Er reichte Koslowski ein paar Überzieher für die Schuhe. Dann drehte er sich um und marschierte los. Koslowski folgte ihm. Die Bäume hatten schon saftiges Grün und spendeten einen angenehm kühlen Schatten. Während sie den Weg weiter entlang gingen, fragte Meyerbrinck: »Und Sal, was ist mit der Marienburger?«

      »Nichts für uns. Nur ein armes Schwein, das mit dem Leben nicht zurechtkam. Selbstmord«, antwortete Koslowski langsam. »Man muss schon sehr verzweifelt sein, wenn man an so einem herrlichen Frühlingstag sein Leben beendet.«

      Meyerbrinck sah Koslowski befremdet an. Koslowskis Sarkasmus irritierte ihn. Er wurde aus Koslowski nicht schlau, kam mit seiner Art von Humor selten klar. Der schmale Weg führte zwischen zwei Bänken zu einem Rondell, das sich stufenweise erhöhte. Am höchsten Punkt befand sich ein kleines Holzhäuschen, der Eingang für die Rutsche auf der anderen Seite. Der Weg umkreiste das Rondell. In der Mitte zweigte ein anderer Weg ab, der weiter geradeaus führte. Etwas weiter vorn erkannte Koslowski zwei Beamte.

      Von irgendwoher wehte der schwere süße Duft von Flieder heran. Koslowski sog die Luft ein und sagte: »Als ob in einer Russendisco die Tür aufgegangen ist.«

      Meyerbrinck schüttelte nur den Kopf. Dabei bog er plötzlich rechts ab. Kurz bevor der Weg endete, blieb Meyerbrinck stehen und stülpte sich die Überzieher über. Koslowski stutzte. Erst jetzt sah er das Absperrband und tat es Meyerbrinck gleich. Sie bückten sich unter dem rotweißegestreiften Band hindurch und gingen über eine kleine Rasenfläche auf eine Ansammlung von jungen Birken zu, die aus den Büschen ragte. Kurz davor wich Meyerbrinck nach rechts aus. Durch eine Lücke in den Büschen gelangten sie zu der Stelle, an der das Mädchen lag. Sie war ungefähr sieben, acht Jahre alt. Der Kopf war zur Seite gedreht, die Augen offen. Ihr blondes schulterlanges Haar leuchtete im Gras. Der linke Arm war seitlich weggestreckt, während der rechte unter ihrem Körper verschwand. Ihr geblümtes Sommerkleid war nach oben gerutscht, gab die Sicht auf den Schlüpfer frei. An ihren Füßen die weißen Socken waren etwas verdreckt. Es fehlte eine Sandale, die rechte.

      »Was ist mit der Spurensicherung?«

      »Sie müsste jede Minute hier eintreffen. Ich hatte gehofft, sie sind vor uns da.«

      »Wer hat sie gefunden? Und wissen wir schon, wer sie ist?«

      »Ein Gassigänger mit seinem Hund. Wir haben seine Aussage und seine Daten, um ihn noch mal befragen zu können. Er meinte, er kenne das Mädchen. Sie wohnt wohl hier in einem der Hochhäuser. Hatte sie hier öfter spielen sehen.«

      Meyerbrinck reichte ihm ein paar neue Handschuhe. Während Koslowski sie sich überzog fragte er: »Keinen Namen?«

      »Nein.«

      »Dann fangen wir einfach mal an. Geh doch bitte in diese Richtung und schau, ob du die fehlende Sandale findest.« Er wies zu den Birken.

      Meyerbrinck nickte kurz und machte sich auf den Weg. Koslowski sah Meyerbrinck hinterher. Es scheint ihn ganz schön mitzunehmen, stellte er fest. Kein Wunder, wahrscheinlich dachte Meyerbrinck an seine zwei Töchter, wenn die auch älter waren als das Mädchen hier. Koslowski stellte sich neben das tote Mädchen und schaute auf sie herab, um das Gesehene zum späteren Abruf zu speichern. Dann hockte er sich neben die Leiche und ließ seinen Blick noch einmal schweifen. Ihn interessierte der rechte Arm, der unter ihrem schmächtigen Körper verborgen war. Er beugte sich vor und tastete sich an ihren Arm in Richtung Hand vor.

      Wenig später rief Meyerbrinck:« Ich hab die Sandale!« Um zwei Sekunden danach Koslowski zu fragen: »Was machst du da?«

      »Ich glaube, sie hat ihre Hand geballt. Vielleicht hat sie was für uns.«

      »Das läuft uns nicht weg«, erwiderte Meyerbrinck. »Warten wir, bis die Spurensicherung da war.«

      »Ist ja gut.«

      Koslowski zog seine Hand unter dem Mädchen hervor und richtete sich auf. Tom hatte ja recht. Er ging zu der Stelle, wo Meyerbrinck nach seinem Ausruf immer noch stand und sah die Sandale im Gras. Die Sohle lag oben.

      »Sie hat ihn wohl verloren, als sie dorthin getragen wurde«, stellte Koslowski fest.

      »Die Frage ist, wo ist sie getötet worden?«

      Koslowski schaute Meyerbrinck kurz an. »Das wird sich wohl nicht mehr beantworten lassen. Da vorn ist der Kinderspielplatz und es ist Sonntag. Was meinst du, was man da noch an brauchbaren Spuren findet?«

      Meyerbrinck zuckte mit den Schultern.

      »Was soll‘s, lass uns nach vorne gehen und auf die anderen warten«, sagte Koslowski zu ihm und drehte sich um. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Auf halbem Weg kamen ihnen schon die Kollegen der Spurensicherung in ihren leichten weißen Overalls entgegen. Koslowski musste bei diesem Anblick immer an einen Film von Woody Allen denken, mit Burt Reynolds und dem Regisseur als Sperma. Er lächelte. Paul Haller, der Fotograf trottete etwas hinterher. Sie begrüßten sich mit dem Wissen, dass ein anderer Anlass schöner gewesen wäre.

      »Na Koslowski.« Paul Haller schaute ihn leicht grinsend an.

      »Grüß Dich, WeeGee«, erwiderte der und grinste automatisch zurück.

      Sie kannten sich schon lange, mochten sich. Haller war weit über fünfzig Jahre und von gedrungener Gestalt. Unter seinem ungebändigten grauen Haar blitzten verschmitzte Augen. Er war Junggeselle und fotografierte in seiner Freizeit mit Vorliebe Parks, Ruinen oder alte knorrige Bäume in Schwarzweiß. Er hatte Koslowski mal ein paar Arbeiten von sich gezeigt und der war beeindruckt. Sie hatten alle diese leise Traurigkeit von einsamen Parkbänken im Winter. Ein Bild von ihm hing bei Koslowski zu Haus an der Wand. Es zeigte einen knorrigen Baumstamm in diffusem Abendlicht. Eine Laterne spendete das spärliche Licht. Der Holzbank davor sah man die Jahre an. Das Wetter hatte es nicht immer gut mit ihr gemeint. Das ganze Bild strahlte etwas Endgültiges aus, als wüsste man, dass auf dieser Bank bald niemand mehr sitzen würde. Paul hatte es ihm zu seinem vierzigsten Geburtstag geschenkt. Koslowski hatte Haller mal gefragt, warum er nicht mehr aus seiner Kunst machen würde. Wer will schon traurige, alte Bäume sehen war die Antwort. Koslowski hatte ihn WeeGee getauft, nach dem New Yorker Fotografen aus den 40er, 50er und 60er Jahren, der damals mit Vorliebe nächtliche Polizeieinsätze fotografierte. Dabei sind das Leben und der Tod nicht immer von ihrer schönsten Seite abgelichtet worden. Paul Haller würde sich nie mit ihm vergleichen wollen.