dem verschollenen Evangelium würde diese Entwicklung gestoppt werden. Ihm war bewusst, dass seine Aufgabe nicht beendet war, sondern eben erst begann. Der Beweis der Existenz war nichts wert, solange das verschollene Evangelium nicht wieder im Besitz der Kirche war und das Alte Wissen vervollständigte.
Er atmete tief durch. Die Kirche war seit der Großen Säuberung noch nie so nahe dran gewesen, die alte Stärke zurück zu gewinnen. Näher dran als zu den glorreichen Zeiten, als Kevin unter den Kuppeln predigte. Er war sich der Brisanz seiner Entdeckung bewusst. Von einem Augenblick zum anderen katapultierte sie seine Forschung vom Status 'harmloses Hobby eines weltverlorenen Intellektuellen' direkt auf die schwarze Liste der ÜKo.
Sein Blick blieb an den Bohrlöchern in der Rückwand hängen. Als Katholik stand ihm das Privileg zu, privat nicht überwacht zu werden. Ein Gedanke hochachtungsvoller Dankbarkeit an die Brüder, die das den Vätern vor Jahrzehnten abgetrotzt hatten, durchschoss ihn. Er war sicher, dass wenn die Väter erkannten, was er plante, sämtliche Privilegien fallen würden. Das Regime der Kolonie duldete keine Kraft neben sich.
Er streckte seine verspannten Glieder. Für einen Kolonisten war er gedrungen gebaut. Er verstärkte den Eindruck eines körperlich Zurückgebliebenen dadurch, dass er rauchte und Bart trug. Doch bald war die Maskerade nicht mehr notwendig.
Er seufzte erneut vor Wollust. Seine Entdeckung kam genau zur richtigen Zeit. Die Kirche stand vor der Spaltung. Die Zweifler an der Existenz des verschollenen Evangeliums wurden lauter. Wie feige Hunde, die erst aus ihren Löchern krochen, wenn die Gefahr vorüber war. Die Ohnmacht der Kurie beförderte die Ketzerei und provozierte Irrlehren. Zu viele Kardinäle, Bischöfe und Priester gefielen sich in der Rolle des Philosophierens und überboten sich in der Kunst des zielfreien Disputierens. Er verachtete sie und mied die langatmigen, mäandernden Konzile seit Langem.
Bald jedoch würden die Zweifler mundtot und die Gräben in der Kirche geschlossen sein. Er musste mit Bedacht vorgehen. Jahrhundertelanges Verstecken und Ducken vor der Macht der Väter und der ÜKo hatten die Gemeinden zögerlich gemacht. Verrat an der Lehre aus Schwäche oder Dummheit war absehbar. Es lag an ihm und seinen mutigen Erzengeln, die Kirche zu reinigen und die Gläubigen wieder um den Altar zu vereinigen.
Mit wenigen Schritten ging er um das Stehpult herum und setzte sich in den hochlehnigen, hölzernen Stuhl. Er zog die e-Pipe aus der Jackentasche und inhalierte. Er verzog das Gesicht, stellte die Nikotinzufuhr auf die höchste Stufe und dosierte Feinstaub dazu. Husten befreit verstopfte Denkkanäle.
Der Papst musste informiert, eine Expedition organisiert, Zeitpläne und Materiallisten übermittelt werden. Das würde einer seiner Erzengel übernehmen, den er während der Beichte in zwei Tagen instruieren würde.
Er zwang sich zu klaren Gedanken. Es war sicher, dass die Zweifler und Waschweiber nicht klein beigeben würden, wenn er das verschollene Evangelium präsentierte. Menschen waren nach der Großen Säuberung nicht anders, nur weniger zahlreich. Auch in der Kirche positionierten sich selbstsüchtige Egoisten, die bereit waren, das große Ganze für ein paar zweitrangige, persönliche Vorteile zu opfern.
Er brauchte einen unabhängigen Zeugen. Eine Person, die ihn begleitete und der man nicht unterstellen konnte, dem höheren Klerus gefügig zu sein. Es musste ein Kolonist sein, denn Erdlinge selbst hielten Erdlinge für unglaubwürdig.
Er rieb sich am Kinn. Er würde Globe einweihen müssen, ob es ihm gefiel oder nicht. Globe musste überzeugt werden, ihn zur Erde zu begleiten und den unabhängigen Zeugen zu spielen. Und er musste für ihn eine Geschichte präparieren, die unverfänglich war. Globe war ein Plappermaul, der kein Geheimnis für sich behalten konnte. Doch wenn er es geschickt anstellte, wurde aus Globes Charakterzug ein Schutzwall, den die ÜKo nicht durchdringen konnte.
Aber das hatte Zeit. Zuerst musste die Botschaft für den Erzengel formuliert werden.
Steve
Steve rubbelte die Haare trocken. Er war zufrieden, weil das Wasser bis zum Schluss warm blieb. Er hasste es, die Seifenreste kalt abspülen zu müssen, was oft genug vorkam. Die Dusche nach dem Morgenlauf in der 0,5G-Schwerkraftzone war das Ritual, mit dem er den Tag startete. Er lief abseits der erlaubten Strecken, um niemanden zu begegnen. Konversation vor dem zweiten Kaffee grenzte an Okkultismus.
Die Umrisse im vom Dampf beschlagenen Spiegel zeichneten seinen schlanken, hochaufgeschossenen, kräftigen Körper ab. Steve entsprach dem Idealbild des Kolonisten: gute Ausbildung, gesund und er machte sich keine unnötigen Gedanken darüber, was er heute zur Weiterentwicklung der Kolonie beitragen konnte. Für laufende Verbesserungen war Helen, seine Freundin, zuständig. Ihre politische Energie reichte für sie beide.
"Was trödelst du rum?", rief Tino gereizt.
Tino war der aktuelle Zeit-Partner von Eve, seiner Mutter. Der Kerl war in Ordnung, solange er nicht in den hör-mal-junger-Mann-Modus verfiel.
"Was ist?"
"Da schwirrt eine Zustelldrohne vor der Tür."
"Wo ist das Problem?"
"Einschreiben! Für dich."
'Vermutlich Helen', ahnte Steve und verdrehte die Augen.
"Ich komme."
Helen entwickelte sich zu einer Belastung. Dass sie eine Drohne mit einer persönlichen Nachricht schickte, war hinterhältig und zeugte von verwerflichen Charakterzügen, die ihm in diesem Ausmaß bisher nicht bewusst gewesen waren. Er strich mit den Fingern die feuchten Haare in Form, schlüpfte in die Hose, steckte das Telespeak ein und zog ein rotes T-Shirt über den Kopf. Er spürte das Tasten des Telespeaks in seinem Gehirnimplantat und akzeptierte die Verbindung.
"Wurde auch Zeit", maulte Tino, "das Ding da draußen nervt."
"Eine Zustelldrohne macht dich nervös?", lachte Steve.
Tinos Stärke waren Verschwörungstheorien. In dieser Disziplin war er Großmeister und vermutete hinter jeder öffentlichen Dienstleistung einen Komplott der Väter. Vielleicht war das ein Muss für freischaffende Journalisten. Steve tippte jedoch darauf, dass in Tinos Kindheit einiges schiefgelaufen war oder dass falsche Ernährung und Bewegungsarmut schuld daran waren. Vielleicht war auch Saturn ungünstig gestanden, als Tino das Licht der Kolonie erblickte. Tino selber bezeichnete sich als Freigeist, der den Mumm aufbrachte, die Missstände unter den Kuppeln anzusprechen und die Inkompetenz der Regierung an den Pranger zu stellen. Immer, wenn einer seiner Artikel zurückwiesen wurde, tappte er in die selbst gebaute Verschwörungsfalle und behauptete, dass die Ablehnung von oben gesteuert war.
'Die da oben mögen es nicht, wenn einer die richtigen Fragen stellt, Junge.', rechtfertigte er sein Versagen. Steve vermutete, dass Tinos Tiraden nur Ablenkungsmanöver waren, weil er im Job versagte. Er würde sich einen Gefallen machen, einen anderen, einfachen Job zu suchen. Eine monotone Arbeit, die beruhigte und sein Karma in Ordnung brachte. Zum Beispiel die Mondoberfläche entstauben.
Es gab keine Regel der Väter gegen die er nicht opponierte. Erst vor zwei Tagen wetterte er gegen die Implantationspflicht.
"Die kontrollieren uns und wenn es ihnen nicht passt, knipsen sie dich mit dem Implantat ferngesteuert aus."
"Dann wundert es mich", spottete Steve, "dass sie deine Gehirnwindungen noch nicht gekocht haben. Du behauptest doch, dass du der Stachel in ihrem Fleisch bist, der sie daran erinnert, sich zu mäßigen. Aber", fuhr er mit einem Lächeln fort, "du könntest doch Recht haben, denn manchmal habe ich wirklich das Gefühl, von Hirntoten umgeben zu sein."
"Du nimmst das auf die zu leichte Schulter, junger Mann."
"Ich weiß nicht, warum du dich aufregst. Denn selbst wenn sie uns über die Implantate beobachten: es hilft offensichtlich dabei, den Laden hier in Schwung zu halten und zu verhindern, dass sich das Desaster von damals wiederholt."
Alle Videos, die jeder Kolonist seit seiner frühesten Kindheit an kannte, bewiesen, wieviel Glück die Kolonie hatte, nicht im Sog der Großen Säuberung untergegangen zu sein. Statt zu Jammern sollte Tino dankbar sein.
Wenn