Peter J. Gnad

Der Regulator und ich


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ihn anzufassen, oder einen Ball auf ihn zu abzuschießen.

      Eigentlich mochten ihn die Mitschüler, er war immer hilfsbereit gewesen, wenn jemand im Mathematikunterricht nicht aufgepasst hatte, er erklärte, rechnete, schrieb, kam auch zu Mitschülern nach Hause, wenn es nicht anders ging. Einige verdankten ihm, nur ihm, ihre spätere Abschlussprüfung. Ohne seine Unterstützung, auch unter der Oberfläche, mit Spickzettel oder abschreiben lassen, hätten sie es nicht geschafft. Hans war zwar niemals der Klassenbeste, dafür aber doch immer sehr effektiv gewesen, auch in der Wahl seiner Mittel, auch beim Schummeln, er war immer verlässlich in seinen Leistungen.

      Wenn er etwas anpackte, dann klappte das auch. So wie im Chemie-Unterricht – der Lehrer lobte ihn außerordentlich. Einmal brachte er sogar seinen Chemiebaukasten mit in die Schule, zeigte unter großem Gejohle der Mitschüler einige Kunststücke. Es rauchte, stank und leuchtete in allen Farben, ein Spektakel, was die Klasse nur allzu gern als Ablenkung vom Unterricht annahm. Wenn einer der Klassenkameraden nicht weiter wusste, ging er nicht zum Klassenprimus, denn dieser war doch nur ein zu nichts zu gebrauchender trockener Auswendiglern-Streber gewesen, sie fragten Hans um Hilfe.

      Ich selbst war in jenem Jahr so schlecht in der Schule gewesen, konnte, wollte mich einfach nicht konzentrieren, meine Eltern ließen sich gerade scheiden, wir hatten ein ständiges emotionales Chaos zu Hause gehabt, sodass ich schließlich die Klasse wiederholen musste. Hans stieg auf, ich wurde nicht versetzt, ich blieb "sitzen". Damit war der gemeinsame Weg in seiner täglichen Kontinuität unterbrochen, aber das hieß nur, dass ich in der Freizeit noch stärker seine Nähe suchte als zuvor. Hans konnte einfach alles, er war ein Multitalent, auf intellektuellem Sektor, er wusste auf alle Fragen vernünftige Antworten, auch wenn er in Wirklickeit von der spezifischen Materie keine Ahnung hatte. Eine zentrale Aussagen, aus diesen Jugendzeiten, machte seine Haltung vollkommen klar.

      "Wenn man will, wenn man etwas wirklich-wirklich will, dann klappt das auch, du musst eben nur wirklich wollen, nicht nur so tun als ob, weil dann geht’s ganz sicher schief, was auch immer es ist." Eines der Dinge, die ich von ihm gelernt und im Leben mehrmals bestätigt gefunden hatte, war eben genau das – zu wollen, wenn man will. Hans hatte zweifellos recht behalten, wie so oft und in so vielen Details des Lebens.

      Einige Jahre später waren wir durch berufliche Wege getrennt worden – Hans war mit seinen Eltern für ein Jahr in die USA gezogen, um dort zu studieren – ich nahm einen Job im benachbarten Ausland an, musste mich ja um mein eigenes berufliches und auch finanzielles Fortkommen kümmern. Ich beneidete ihn, auch wegen der blonden Mädels am Strand von Malibu, wo er nun seinen "Luxuskörper", wie er sich ausdrückte, in der Sonne rekelte. Meine Eltern, im Gegensatz zu seinen, gehörten eher nur zur unteren Einkommensklasse, Kalifornien war weit weg, musste bei mir ein nur ferner Traum bleiben.

      Als wir einander wieder trafen, waren vier Jahre vergangen. Hans war inzwischen zurückgekehrt, lebte nunmehr in München, da, wo alle Wege so gut vertraut sind, wie die eigene Hosentasche.

      Ich war zwar nur zu Besuch aus dem Ausland gekommen, streckte aber doch auch meine Fühler aus, hatte mir in der Zwischenzeit wohl ein wenig Heimweh eingefangen. Ich liebäugelte mit der Idee, mir vor Ort Arbeit zu suchen. Es dauerte nicht lange - Hans bot sich an mir zu helfen, einen Job zu finden und seine Verbindungen erwiesen sich als sehr hilfreich. Ohne diese, seine Zirkel, in denen er schon heimisch war, hätte ich diesen guten Job nie bekommen. Es war sein Schubs, der mich auch gleich anfangs schon die Karriereleiter hinaufbeförderte, ein ordentlicher Schubs, der auch finanziell durchaus seine Früchte trug. Schon bald hatte ich mich wieder völlig eingelebt. In der Heimat war es zwar nicht so exotisch, aber dafür eben heimelig und das war ja auch was wert.

      Natürlich verbrachten wir in Folge ziemlich viel Zeit miteinander. Ich verweigerte nur den Golfplatz, weil mir das dann doch zu abgehoben erschien, für mich selbst. Ich fühlte mich da nicht wohl, gehörte da nicht hin, das war nicht die Art von Gesellschaft, die ich suchte. Die sprachen über alles, schaumgebremst - cool, calm and collected – nur nicht aufregen, da entgleisen doch nur alle Gesichtszüge und man fängt womöglich noch zu transpirieren an, das war nicht erwünscht. Gespräche hatten – dort – eine gewisse Form einzuhalten – alles andere war verpönt, keine Emotionen, alles gänzlich keimfrei, keine unerwarteten Abweichungen.

      "Ja, da hast du schon recht, aber unter anderem, genau dort werden oft die Dinge in Bahnen gelenkt, die du dann erst viel später aus dem Parlament oder von einem Minister hörst, ganz offiziell, über die Medien… Ich muss dort mitspielen können, sonst tappe auch ich im Dunkel – dort spielt die Musik, in der Oper, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen oder auch im Puff." "Jetzt sag bloß, du gehst in einen Puff ?"

      "Ja, ich war schon mehrmals im Puff, es gibt Schlimmeres auf dieser Welt !"

      Hans heiratete auch nie, nicht wirklich. Einmal, für ein paar Monate, hatte er sich breitschlagen lassen, die Tochter eines seiner wichtigen "Freunde" zu ehelichen. Er hatte hauptsächlich aus geschäftlichen Gründen eingewilligt. Die einzige Bedingung, er wollte unbedingt in Bali heiraten.

      "Ganz weit weg, damit es keine Fotos und Zeugen gibt, kein Reporter, der vielleicht auch nur zufällig in der Presse darüber schreibt oder dass irgendwer einen Film, ein Video macht, das man dann im Internet findet."

      Das Intermezzo hatte auch nicht lange angedauert, Hans blieb ein Fremder im eigenen Haus, das Bett hatte das Ehepaar ohnedies nie geteilt, die Ehe hätte gut und gern auch als "nicht-vollzogen" geschieden worden sein, aber das wäre schon wieder viel zu blamabel gewesen. Die Scheidung verging wie die Hochzeit, in aller Stille. Sie, seine Ehefrau hatte die Scheidung verlangt, weil sie einen neuen Liebhaber, einen der auch im Bett lag, gefunden hatte.

      "Ein Kerl, der wenigstens auf ihr Portemonnaie so scharf war, dass er sich deshalb sogar tatsächlich mit ihr im Bett herumbalgte und das auch noch lautstark. Ich war gerade nach Hause gekommen, unerwartet, von einer Reise, da hörte ich ihn röhren, wie einen Hirsch. Das muss ihr mächtig imponiert haben, so sehr, dass sie ihn sogar heiratete, nur einen Monat nach unserer Scheidung. Ich war froh, sehr froh, diese Last wieder los zu sein, beglückwünschte meinen Nachfolger sogar !"

      Er grinste übers ganze Gesicht, schelmisch, wie in der Schule, als wir dem Lehrer, gemeinsam, in seinen dicken Lehrer-Ranzen gepisst hatten. Leider war niemand dabei gewesen, der Lehrer musste das Ungemach erst zu Hause entdeckt haben. In der Schule war dieser Vorfall offiziell nie erwähnt worden, zu groß war die Angst des Lehrers, auch nachträglich noch, Grund für gesamt- schulisches, hämisches Gelächter zu werden. Der Lehrer war unbeliebt gewesen, in allen Klassen. Ein alter Nazi, einer jener Brut, die auch noch lange nach der Schulzeit in den Erinnerungen der Schüler präsent blieb.

      Mit seiner Erzählung, als er sich, damals, 1944, blutjung, in diesem "mörderischen Vaterlandskrieg", den man auch in Stalingrad kämpfte, nach verlorener Schlacht, zu Fuß auf der Flucht, nach Hause durchschlug. Er war nicht nur ein "Schwein" gewesen, sondern auch noch ein schlechter Lehrer, wir lernten nur ihn zu vermeiden, das aber dafür gründlich.

      Er starb, eines Tages auf dem Weg nach Hause, erlitt einen Schlaganfall, am Steuer seines Wagens, so lautete die offizielle Erklärung der Direktion. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht mehr Schüler in Hans Klasse gewesen, aber er erzählte mir die Begebenheit, in allen Details. Die Todesursache war nie genau eruiert worden, man gab sich mit den Beobachtungen der Passanten zufrieden. Auch wollte man das Geschehen nicht noch weiter vertiefen, es lieber aus den Köpfen der Schüler wieder entfernen.

      Hans hatte ein ganz bestimmtes Lächeln im Gesicht gehabt, als er mir davon erzählte. Nachträglich betrachtet, erschien mir der Tod des Lehrers dann doch etwas seltsam, aber damals, in der Schulzeit, gab es keinen Verdacht. Nach Lektüre seiner Aufzeichnungen und den zugehörigen Belegen, meist in Form eines Zeitungsartikels, oder sogar eines im Internet abrufbaren Videos, das die Vorkommnisse von offizieller Ebene schilderte, war ich mir nicht mehr so sicher, dass es eine "natürliche Todesursache" gewesen war. Aber selbst Hans schilderte den Tod des Lehrers als Unfall, bei dem er mehr oder weniger nur Zuseher gewesen war. An diesem Punkt war sein Weg auch noch nicht vorgezeichnet gewesen - seine Story, eigentlich eine Autobiografie, ließ daran keinen Zweifel. Andererseits, mein Kopf weigerte sich später des Öfteren, alles zu glauben, was ich da las.

      War