Felix Salten

Bambi


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ist genug da für uns alle.«

      Bambi wollte noch etwas wissen: »Muttern …?«

      »Was denn?«

      »Werden wir auch einmal böse zueinander sein?«

      »Nein, mein Kind«, sagte die Mutter, »bei uns gibt es das nicht.«

      Sie gingen weiter. Mit einem Male wurde es ganz hell vor ihnen, strahlend hell. Das grüne Gewirr von Büschen und Sträuchern war zu Ende, die Straße war zu Ende. Nur ein paar Schritte noch, und sie kamen hinaus in die lichte Freiheit, die sich vor ihnen öffnete. Bambi wollte vorwärtsspringen, doch die Mutter blieb stehen.

      »Was ist das?« rief er ungeduldig und schon ganz bezaubert.

      »Die Wiese«, antwortete die Mutter.

      »Was ist das, die Wiese?« drängte Bambi.

      Die Mutter schnitt ihm das Wort ab. »Das wirst du schon selber sehen.« Sie war ernst geworden und aufmerksam. Regungslos stand sie, hielt das Haupt hoch, lauschte angespannt, prüfte mit tiefen Atemzügen den Wind und sah ganz streng aus.

      »Es ist gut«, sagte sie endlich, »wir können hinaus.« Bambi sprang los, aber sie sperrte ihm den Weg. »Du wartest, bis ich dich rufe.« Im Augenblick stand Bambi gehorsam still. »So ist es recht«, lobte die Mutter. »Und nun merke genau, was ich dir sage.« Bambi hörte, wie erregt die Mutter sprach, und geriet in große Spannung. »Es ist nicht so einfach, auf die Wiese zu gehen«, fuhr die Mutter fort, »es ist eine schwere und gefährliche Sache. Frag' nicht, warum. Du wirst das schon später noch lernen. Für jetzt befolge genau, was ich dir sage. Willst du?«

      »Ja«, versprach Bambi.

      »Nun gut. Ich gehe also vorerst allein hinaus. Bleibe hier stehen und warte. Und schau' immer auf mich. Behalte mich unaufhörlich im Auge. Wenn du siehst, daß ich wieder zurücklaufe, hier herein, dann machst du kehrt und rennst davon, so schnell du kannst. Ich hole dich schon ein.« Sie schwieg, schien zu überlegen und fuhr dann eindringlich fort: »Jedenfalls laufe, laufe, was du kannst. Laufe … auch wenn etwas geschehen sollte … auch wenn du siehst, daß ich … daß ich zu Boden stürze … achte nicht auf mich, verstehst du? … Was immer du siehst oder hörst … nur fort, augenblicklich und so schnell wie möglich …! Versprichst du mir das?«

      »Ja«, sagte Bambi leise.

      »Wenn ich dich aber rufe«, sprach die Mutter weiter, »kannst du kommen. Draußen auf der Wiese darfst du spielen. Es ist schön draußen, und es wird dir gefallen. Nur … du mußt mir auch das versprechen … beim ersten Ruf von mir mußt du an meiner Seite sein. Unbedingt! Hörst du?«

      »Ja«, sagte Bambi noch leiser. Die Mutter sprach so ernst.

      Sie redete weiter: »Da draußen … wenn ich rufe … da darf es kein Umhergaffen geben und kein Fragen, sondern wie der Wind hinter mir drein! Merk' dir das. Ohne Besinnen, ohne Zögern … sofort, wenn ich zu laufen anfange, heißt es auf und davon und nicht stillstehen, bis wir wieder hier drinnen sind. Wirst du das nicht vergessen?«

      »Nein«, sagte Bambi beklommen.

      »So will ich jetzt gehen«, meinte die Mutter und schien nun etwas ruhiger.

      Sie trat hinaus. Bambi, der kein Auge von ihr ließ, sah, wie sie mit langsam hohen Schritten vorwärts ging. Voll Erwartung, voll Furcht und Neugier stand er da. Er sah, wie die Mutter nach allen Seiten lauschte, er sah sie zusammenfahren und fuhr selbst zusammen, bereit, ins Dickicht zurück zu springen. Da wurde die Mutter wieder ruhig, und als eine Minute verging, wurde sie fröhlich. Sie duckte den Hals, streckte ihn lange vor, schaute vergnügt herüber und rief: »Komm!«

      Bambi sprang hinaus. Eine ungeheure Freude ergriff ihn so zauberhaft stark, daß er sein Bangen im Nu vergaß. Er hatte im Dickicht nur die grünen Baumwipfel über sich gesehen, und darüber nur manchmal, nur in kleinen Durchblicken, verstreute blaue Sprenkel. Jetzt sah er das ganze Himmelsblau hoch und weit, und das beglückte ihn, ohne daß er wußte, weshalb. Von der Sonne hatte er im Walde nur einzelne, breite Strahlen gekannt oder das zarte Gerinnsel von Licht, das golden durch die Zweige spielt. Jetzt stand er plötzlich in der heißen blendenden Macht, deren unbedingtes Herrschen auf ihn eindrang, stand mitten in dem Glutsegen, der ihm die Augen schloß und das Herz öffnete. Bambi war berauscht; er war vollständig außer sich, er war einfach toll. Unbeholfen sprang er in die Höhe, dreimal, viermal, fünfmal auf dem Fleck, auf dem er stand. Er konnte nicht anders; er mußte. Es riß ihn, in die Höhe zu springen. Seine jungen Glieder spannten sich so kräftig, sein Atem ging so tief und leicht, und er trank mit dem Atem, trank mit allem Duft der Wiese so viel übermütige Heiterkeit, daß er eben springen mußte. Bambi war ein Kind. Wäre er ein Menschenkind gewesen, so hätte er gejauchzt. Aber er war ein junges Reh, und Rehe können nicht jauchzen, wenigstens nicht auf jene Art, in der die Menschenkinder es tun. Er jauchzte also auf seine Weise. Mit den Beinen, mit dem ganzen Körper, der sich in die Luft schleuderte. Seine Mutter stand dabei und freute sich. Sie sah, daß Bambi toll war. Sie sah, daß er sich in die Höhe warf, unbeholfen wieder auf demselben Fleck niederfiel, verdutzt und berauscht vor sich hin starrte und sich im nächsten Augenblick wieder in die Höhe warf, wieder und wieder. Sie begriff, daß Bambi nur die schmalen Rehstraßen des Waldes kannte, in den kurzen Tagen seines Daseins nur an die Beengtheit des Dickichts gewöhnt war, und daß er sich deshalb nicht vom Fleck rührte, weil er es noch nicht verstand, auf der offenen Wiese frei umher zu laufen. Sie duckte sich in die ausgestreckten Vorderläufe, lachte Bambi eine Sekunde an, war mit einem Schneller weg und sauste im Kreise umher, daß die hohen Grashalme nur so rauschten. Bambi erschrak und blieb regungslos. War das nun ein Zeichen, daß er zurück ins Dickicht sollte? Kümmere dich nicht um mich, hatte die Mutter gesagt, was du auch siehst und hörst; nur fort, so schnell wie möglich! Er wollte kehrtmachen und flüchten, wie es befohlen war. Da kam die Mutter plötzlich angaloppiert; in einem wunderbaren Rauschen fuhr sie daher, ruckte zwei Schritte vor ihm zusammen, duckte sich wie das erste Mal, lachte ihn an und rief: »Fang mich doch!« Und im Hui stob sie davon. Bambi war verblüfft. Was sollte das heißen? Was war denn auf einmal mit der Mutter? Aber da kam sie schon wieder, so rasend schnell, daß man schwindlig werden konnte, stieß ihn mit der Nase in die Flanke, sagte eilig: »Fang mich doch!« und fegte davon. Bambi stürzte ihr nach. Ein paar Schritte. Aber gleich wurden die Schritte zu leichten Sprüngen. Es trug ihn, er glaubte zu fliegen; es trug ihn von selbst. Raum war da unter seinen Schritten, Raum unter seinen Sprüngen, Raum, Raum. Bambi geriet außer sich. Das Gras rauschte ihm herrlich in die Ohren. Es war köstlich weich, seidig zart, wie es an ihm vorbeistrich. Er jagte im Bogen, warf sich herum und pfeilte in einem neuen Kreis, warf sich wieder herum und flitzte weiter. Die Mutter stand schon eine Weile still, holte Atem und wendete sich nur immer nach der Seite, wo Bambi vorüberflog. Bambi raste.

      Plötzlich ging's nicht mehr. Er hielt inne, kam mit zierlich gehobenen Läufen zur Mutter und sah sie glückselig an. Dann spazierten sie wohlgelaunt nebeneinander. Seit er hier draußen war, hatte Bambi den Himmel, die Sonne und die grüne Weite nur mit dem Körper gesehen, nur mit einem geblendeten, trunkenen Blick den Himmel; mit dem wohlig durchwärmten Rücken und den stärkenden Atemzügen die Sonne. Nun erst genoß er mit Augen, die Schritt vor Schritt von neuen Wundern überrumpelt wurden, die Pracht der Wiese. Da war kein Fleckchen Boden sichtbar wie drinnen im Walde. Da drängte sich Halm bei Halm um jedes Pünktchen Platz, schmiegte sich und schwoll in üppiger Pracht, bog sich unter jedem Tritt sanft zur Seite und richtete sich gleich wieder versöhnt empor. Der weite grüne Plan war besternt mit weißen Margeriten, mit den violetten und rot angelaufenen dicken Köpfen des blühenden Klees und mit den prunkvoll leuchtenden Goldknäufen, die der Löwenzahn in die Höhe hielt.

      »Sieh nur, Mutter«, rief Bambi, »da fliegt eine Blume davon.«

      »Das ist keine Blume«, sagte die Mutter, »das ist ein Schmetterling.«

      Bambi sah entzückt dem Falter nach, der sich unendlich zart von einem Halm gelöst hatte und in taumelndem Flug dahinschwebte. Jetzt sah Bambi, daß viele solcher Schmetterlinge in der Luft über die Wiese hinflogen, scheinbar eilig und doch langsam, auf und nieder taumelnd, ein Spiel, das ihn begeisterte. Es sah wirklich aus, als ob es wandernde Blumen wären, lustige Blumen, die auf ihrem Stengel nicht