seinem Schneckenhaus einsam sterben wird.«
»Au, das tut mir weh«, flüstere ich, als ich glaube, meine Fingerknochen jeden Moment unter Tams Wut brechen zu hören. Er steht so unter Strom, dass er zu vergessen scheint, dass er seine Aggressionen nicht an meinen zarten Händen auslassen sollte.
»Ich würde jetzt gern gehen.« Er spricht ruhig und besonnen, lockert den Griff um meine geschundenen Finger jedoch keinen Millimeter. Tränen schießen mir in die Augen. Ich bin sicherlich keine Mimose, aber Tam macht mir wahnsinnige Angst und das ist nicht das erste Mal. Wo will er denn hingehen? In die Abwrackhalle, um Tamika Gesellschaft zu leisten? Als Märtyrer sterben, weil eine verwirrte und wahnhafte alte Frau seinen Papi beleidigt hat? Ich wünsche mir nichts mehr, als dass er sich beruhigt, meine Hand am Leben lässt und an meiner Seite diese Bolidenhölle übersteht.
»Gleich«, sagt Daloris genüsslich.
Ich schluchze. Ich möchte es nicht. Ich möchte stark und mutig sein, eine Flucht planen, zurück zu meiner Familie und weg von diesen ganzen Gestörten, die mich von allen Seiten bedrängen. Weg von den Lügen, den Manipulationen und diesem furchtbar deprimierenden Ort.
»Was haben Sie vor?« Sly, willst du es wirklich wissen? Ich wimmere wie ein kleines Mädchen und muss ein trauriges Bild abgeben, wie ich hier, hinter einen Campingtisch geklemmt, sitze und meine Finger vor Schmerzen nicht mehr spüre.
»Morgen früh geht ein Waffentransport nach Midden und ihr werdet in den Munitionskisten liegen.«
Made im Speck
»Roya?« Ich ziehe mir den Schlafsack über mein verheultes Gesicht und ignoriere die Anspielungen von der Seite. »Roya, können wir bitte darüber reden? Dein Schweigen bricht mir das Herz!« Jetzt reicht es! Ich drehe mich um und schreie ihn im halblauten Flüsterton an. Sly schläft bereits in seiner Eckbanksuite und ich möchte ihm dieses kleine Stückchen Frieden unter keinen Umständen nehmen, nur weil Mister selbstsüchtig meine Distanz nicht aushält.
»Tam, du hast dich nicht unter Kontrolle und das jagt mir Angst ein. Lass mich einfach! Ich brauche ein wenig Zeit, okay?« Bevor ich seinen stahlblauen Augen wieder hoffnungslos verfalle und klein beigebe, wende ich mich ab und unterdrücke die Tränenflut, die erneut meine Augen zu überschwemmen droht.
»Es tut mir leid!« Mensch, Junge, das weiß ich, aber deine süßliche Stimme wird mich jetzt gerade auch nicht in deine Arme treiben. »Diese Daloris hat mich einfach wahnsinnig gemacht mit ihren Lügengeschichten und deine Hand…«, er stockt und ich weiß genau, wie er in diesem Moment beschämt und traurig auf meinen abgewandten Rücken starrt. »Bitte verzeih mir! Ich wollte dir niemals weh tun!«
Nicht schwach werden, Roya. Diese Floskeln kommen in jedem zweiten Liebesschinken aus Fenjas Filmarchiv vor und haben nichts zu bedeuten. Ich brauche Abstand und den soll er mir verdammt nochmal zugestehen! Also bleibe ich reglos liegen und bin meiner geschundenen Hand dankbar für die ablenkenden Signale, die sie mir in pulsierenden Schmerzintervallen sendet. Au, morgen werden meine Finger sicher in den herrlichsten Grün- und Blautönen strahlen.
»Roya!« Ich werde herumgedreht und verheddere mich ungeschickt in meinem Schlafsack. Tam wollte ein ernstes Gespräch mit mir führen, aber nun beugt er sich lachend über mich, denn ich muss ein skurriles Bild abgeben, wie ich wie eine Made im Speckmantel vor ihm – oder besser gesagt unter ihm liege.
»Sorry, das ist jetzt einfach zu komisch!« Angeblich beleidigt, aber mit einem versteckten Lächeln auf den Lippen, will ich mich abwenden, als er mich erneut zaghaft an der Schulter packt und in sein Blickfeld dreht. Diese Augen. Nein! Stop! Keine Chance! Lass mich in Ruhe!
»Das könnte unser letzter Abend sein, ist dir das klar?« Natürlich. Ein Waffentransport als Taxi ins Zentrum Polars – das klingt nicht nur unglaublich bescheuert, sondern wird zudem gefährlich und vielleicht sogar tödlich. »Wir sollten nicht streiten, Roya!«
Er kommt näher und streicht mir die verlotterten Haare aus der salzig klebrigen Stirn. Bitte nicht. Ich habe jetzt langsam keine Kraft mehr, mich gegen deine Verführungskünste zu wehren. Sei bitte kein Arsch und nutz diese Schwäche nicht aus.
»Wir sollten jetzt schlafen!« Die Stimme der Vernunft hört sich aus meinem Mund total aufgesetzt an. Ich selbst würde mir den Mist nicht einmal glauben.
»Wir sollten vor allem nicht im Selbstmitleid zerfließen, sondern unser bisheriges Leben feiern. Es war nicht alles schlecht. Wir hatten wunderschöne Momente – gemeinsam.« Ein Schauer jagt mir bei seinem letzten Wort den ganzen Rücken hinunter. Gemeinsam.
»Wenn wir morgen tot sind, dann will ich meine verbleibenden Stunden auf dieser wunderschönen Erde nicht mit einer verletzten und tieftraurigen Roya an meiner Seite verbringen, sondern dankbar sein. Für dich! Für uns! Für das hier!« Sein Blick bleibt standhaft und lässt mich nicht aus seinen gutaussehenden und verführerischen Fängen.
Es gibt kein uns, schon lange nicht mehr. Ich liebe seinen Bruder und das weiß er. Er weiß es und er versteht und akzeptiert es. Das hat er mir in den letzten Wochen und Monaten immer wieder versprochen. Und doch will ich in dieser Sekunde sein Gesicht in meinen Händen halten, ihn küssen, ihn berühren und…
»Ich kann nicht!« Dreh dich weg, Roya! Bleibe standhaft! Schon deine Gedanken sind sündhaft! Also. Dreh. Dich. Um.
»Roya.« Es ist nur ein Hauchen, mit dem er die Buchstaben in mein Ohr bläst und ich erliege dem Zauber des Moments. Es ist falsch, es wird mich bis in meine Träume verfolgen und mein Herz in einen schwarzen Klumpen aus Lügen und Betrug verwandeln, aber ich blende die Schuldgefühle komplett aus und gebe Tam recht. Es könnten unsere letzten Minuten sein.
Tams warme Hände wandern ins Unbekannte, seine Lippen erkunden jeden Zentimeter meines kribbelnden Halses und ein wohliges Stöhnen entschlüpft meiner trockenen Kehle.
»Nein«, flüstere ich, »ich könnte mir das niemals, niemals, niemals verzeihen und außerdem bin ich gerade sauer auf dich!« Der Typ ignoriert meine Beschwerde gekonnt und widmet sich erneut meinem viel zu sensiblen Ohr. Ich weiß nicht, was ich denken und fühlen soll. Einerseits bin ich viel zu erregt, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen, schließlich liege ich mit einem absoluten Traumtypen in einem gemeinsamen Schlafsack und habe verdammt wenig an. Andererseits schreit die eifersüchtige Stimme des Gewissens mich so penetrant an, dass ich sie einfach nicht zu überhören vermag.
»Soll ich aufhören?«, fragt er, während sein Kopf immer weiter nach unten wandert und die weichen Locken meine Nasenspitze kitzeln.
»Nein!«, sage ich. Ja, denke ich. Herz über Kopf. Lust über Verstand. Sünde über Traurigkeit.
»Roya?« Tams Mund findet meinen und beendet mit seinem Kuss mein leises Wehklagen, welches sich gerade in leidenschaftliches Beben zu verwandeln versucht.
»Halt den Mund und küss mich, sonst überleg ich es mir noch anders!« Dieser Aufforderung kommt er in solch einem Tempo nach, dass ich Angst habe, gleich einer Ohnmacht zu erliegen.
»Leute, ich wollte euch nur kurz mitteilen, dass ich auch noch hier bin. Aber lasst euch nicht stören.«
Scheiße. Tam kichert mit dem Kopf auf meiner Brust liegend und auch ich kann kaum an mir halten. Normalerweise würde ich in Scham versinken und mich vor lauter Aufregung im Klo einschließen, nur um Slys Blicke nicht ertragen zu müssen. Doch hier ist nichts normal. Hier betrüge ich um ein Haar einen geliebten Menschen, um mich für ein paar Minuten nicht mehr hilflos und allein zu fühlen. Obendrauf hat die Toilette in diesem Gefängnis nicht mal ein Schloss. Von der Normalität sind wir also ein so großes Stück entfernt, dass ich mich ohne rot zu werden aufsetze, Tam aus meinem schwitzigen Dekolleté hervorziehe, meine zerzausten Haare hinter die Ohren streiche, mein kurzes T-Shirt zurechtrücke und Tam mit einem Kuss auf die Nasenspitze sehnsüchtig in die Nacht entlasse. Unsere vielleicht letzte Nacht, in der mich Sly vor dem wahrscheinlich größten Fehler meines bisherigen Lebens bewahrt hat. Ich bin unendlich dankbar, doch es ist Tams breites Grinsen und mein peinlich berührtes Kichern, was zuletzt