Ralf Häcker

Mauern der Macht


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gekommen, nach Dienstschluss nicht den direkten Weg nach Hause, zu Lisa und zu den Kindern zu nehmen. An diesem Nachmittag aber, fand ich mich an der Theke irgendeiner austauschbaren Eckkneipe wieder. Eingerahmt zwischen anderen Nachmittagstrinkern, wurde mir bewusst, wie ich dabei war, mich innerhalb kürzester Zeit von einem ehrlichen und anständigen Menschen in einen miesen egoistischen Lügner zu verwandeln. Die Nähe zu meinem Spiegelbild hinter der Theke wurde mir unerträglich. Ich schüttete mein Bier in mich hinein und verließ mehr oder weniger fluchtartig das Lokal. Zum Glück begegnete mir auf den paar Metern zu meinem Auto niemand den ich kannte. Es wäre mir peinlich gewesen, hätte man mich um diese Uhrzeit aus einer Kneipe kommen sehen.

      Zu Hause angekommen begrüßte mich Lisa wie jeden Tag mit einem Kuss. Sie bemerkte sofort den Alkohol in mir. Ein neuer Mitarbeiter habe heute seinen Einstand gegeben und ich hätte mich kurz dazugesetzt, versuchte ich sie zu beruhigen.

      Zum Glück stürmten Marie und Roger auf uns zu und erzählten von ihren Schulerlebnissen. Schon kurz darauf saßen wir beim gemeinsamen Abendessen. Lisa erzählte den Kindern, ich müsse abends noch einmal weg, um einen Kunden zu treffen. Sie lobte mich richtiggehend vor den beiden und meinte, wie schön es doch wäre, so einen tüchtigen Mann und Vater zu haben.

      Als wir uns gerade über unsere Riesenportion Nachspeiseeis hermachten, fragte Lisa, ob ich den Mann aus New Orleans nicht mal zu uns einladen wollte? „Wie heißt er eigentlich?“, wollte sie wissen. „Mister Parker“ antwortete ich. „Ich weiß aber nicht, ob er unsere Einladung annehmen wird. Er wäre dann noch weiter von zu Hause weg und ich glaube nicht, dass er das will. Aber ich werde ihn heute Abend auf jedem Fall fragen und von Dir grüßen. Siehst Du, jetzt hätte ich es beinahe vergessen, auch von ihm soll ich Dir herzliche Grüße ausrichten.“

      Das alles wurde unerträglich für mich und ich beschloss, schon früher als notwendig wieder loszufahren. Obwohl ich noch über eine Stunde Zeit gehabt hätte, entfloh ich dieser für mich so unangenehmen Situation. „Lisa, für heute ist wieder starker Regen angekündigt. Um rechtzeitig bei Mister Parker zu sein, halte ich es für sinnvoll, eher loszufahren.“ Lisa zeigte wie immer Verständnis und bestärkte mich sogar aus Sicherheitsgründen sofort zu starten. Ich verabschiedete mich bei den Kindern und wünschte ihnen eine gute Nacht. Dank des mitlaufenden Fernsehers vermissten sie mich nicht sonderlich. Lisa hingegen hielt mich lange in ihren Armen, drückte mich ganz fest an sich und meinte, es würde sicher alles gutgehen. Ganz bestimmt würde Mister Parker seine Traktoren bei unserer Firma bestellen, schließlich habe er doch einen guten und vertrauenswürdigen Berater. Lisa begleitete mich bis zum Auto. Noch eine ganze Weile sah ich sie im Rückspiegel mir nachwinken.

      Die Autofahrt war wieder alles andere, als angenehm. Zweifel und Gewissensbisse plagten mich, aber je näher ich New Orleans kam, desto mehr stieg meine Vorfreude auf Tatjana. Ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.

      Endlich in der Bar angekommen, wurde ich vom Barkeeper freundlich begrüßt. Seinen Augen sah ich an, er wusste auf wen ich wartete, aber sein Blick schien mir wie eine Mischung aus Mitleid und Sorge. Da ich an diesem Tag schon getrunken hatte, bestellte ich mir lediglich ein Glas Wasser und lauschte der mir schon bekannten Sängerin.

      Nach über einer Stunde erschien Tatjana. In ihrem schulterfreien mintgrünen Kleid, wirkte sie wie ein Traumwesen auf mich. Ein tiefer Ausschnitt gewährte Blicke auf ihre wohlgeformten Rundungen. Eine Bewunderung bis zur Sprachlosigkeit erreichte mich. Die Frage, kann ein Mensch so umwerfend schön sein, drängte sich in meine Gedanken.

      Obwohl wir uns am Abend zuvor etwas näher gekommen waren, überraschte mich ein Begrüßungskuss von ihr. Ich fasste sie ganz leicht an den Schultern und gestand ihr, wie schön sie doch sei. Sie setzte sich zu mir und ich bestellte eine Weinschorle für sie. Sie lachte und war amüsiert darüber, wie schnell ich ihre Gewohnheiten registriert hatte. Als wir miteinander anstießen, sah ich ihre edle Uhr am rechten Handgelenk. Darauf angesprochen, warum sie ihre Uhr rechts trage, meinte sie nur: „Weil alle anderen Leute sie links tragen.“

      Wir hatten eine Menge Spaß, aber zunehmend wurde sie ernster und nachdenklicher. Ich bat sie darum, mir zu erzählen, was mit ihr los sei und was sie bedrücke. Sie meinte, sie hätte Angst, sich in mich zu verlieben. Um sich zu erklären, begann sie zu erzählen.

      Kapitel 2

      Geboren wurde sie 1982 als erstes von zwei Kindern. Ihr Bruder Nikolai folgte ihr erst 14 Jahre später. Durch den relativ großen Altersunterschied wuchsen beide zunächst wie Einzelkinder auf. Ihre Eltern sicherten den Lebensunterhalt durch den Betreib eines kleinen Lebensmittelgeschäftes am Moskauer Stadtrand. Zu Reichtum hatte es zwar nie gereicht, ein sorgenfreies und unbeschwertes Leben aber war ihnen stets vergönnt. Beide Geschwister waren überdurchschnittlich talentiert. Tatjana tat sich mit dem Abitur nicht sonderlich schwer und begann mit 21 Jahren Chemie zu studieren. Als sie das dritte Semester besuchte, ihr Bruder war gerade acht Jahre alt, verunglückten beide Eltern bei einem Verkehrsunfall tödlich. Um Nikolai vor der Einweisung in ein Heim zu bewahren, entschieden einsichtige Behörden, ihn bei seiner großen Schwester aufwachsen zu lassen.

      Von diesem Moment an, war Tatjana völlig auf sich alleine gestellt. Neben ihrem Studium zog sie liebevoll ihren Bruder auf und kümmerte sich nebenbei um Haushalt und andere anfallende Arbeiten. Um die Miete für die Wohnung bezahlen zu können, bediente sie abends in einer kleinen Bar in der Innenstadt. Durch ihr freundliches Wesen und ihre Aufgeschlossenheit den Gästen gegenüber, rundeten diese die anfallenden Rechnungen meist großzügig auf. So verfügte Tatjana über genügend Einnahmen, um zusammen mit ihrem Bruder einigermaßen würdig über die Runden zu kommen. Mit 24 Jahren wurde ihr eine Praktikantinnenstelle in einer Chemiefabrik zugewiesen. Dies war genau die Firma, in der sie später einmal fest angestellt wurde und die ihren weiteren Lebensweg so maßgeblich mitbestimmen sollte.

      Schon als sie sich für das Praktikum bewarb, war sie mehreren leitenden Angestellten vorgestellt worden. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, dass die Firma unter anderem auch mit der Herstellung von Kampfstoffen vertraut war. Deshalb kam ein äußerst strenges Auswahlverfahren für künftige Mitarbeiter zur Anwendung. Dabei richteten sich die Fragen in erster Linie nach Systemtreue. Da Tatjana in dieser Hinsicht ziemlich unbedarft war, stellte es kein großes Problem dar, sie auf den richtigen Kurs einzustimmen und ihr somit den Anstellungsvertrag aushändigen zu können.

      Ab dem ersten Tag ihres sechswöchigen Praktikums zeigte Tatjana großes Engagement. In einer Art Jobrotation wurde sie in drei der vier Abteilungen eingeführt. Dabei lernte sie die jeweiligen Vorgesetzten und die zugehörigen Mitarbeiter kennen. Neben einer eigenen Sparte für Forschung und Entwicklung medizinischer Präparate, gab es daran anhängend eine zur Herstellung von Pharmaprodukten und einen beinahe unbedeutenden Nebenzweig für Kosmetika.

      Die vierte Abteilung war von allen anderen abgeschottet und eine Art Firma in der Firma. Dicke Stahltüren und eigene Pförtner überwachten den Zutritt. Dahinter grenzte der Bereich in dem teilweise die Erforschung und Schaffung chemischer Kampfstoffe vermutet wurde. Da aber seit 1997 chemische Waffen sowohl durch die Chemiewaffenkonvention, wie auch seit 2005 durch das Genfer Protokoll international geächtet sind, ist auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerung offiziell verboten. Um diesem Verbot Rechnung zu tragen, wurde am 1. April 2006 durch den Staat die zweite russische Anlage zur Vernichtung von Chemiewaffen in Kambarka, Republik Udmurtien in Betrieb genommen. Deshalb gab es in Tatjanas Privatunternehmen keine offiziellen Hinweise darauf, was genau in dem verschlossenen Teil hergestellt wurde. Auffällig war jedoch, dass diesen Firmenteil nur Mitarbeiter betreten durften, die tatsächlich darin beschäftigt waren. Die Firmenleitung war stets bemüht, diesen Mitarbeiterkreis möglichst klein zu halten. Ihr Leiter Igor Panev genoss bei den Firmeninhabern höchste Wertschätzung, während die normalen Mitarbeiter ihn fürchteten und wenn möglich jeglichen Kontakt zu ihm mieden. Schon durch sein Äußeres verbat sich jegliche Sympathie. Er war stark übergewichtig, hatte einen quadratischen Schädel mit nur noch wenigen nach hinten gekämmten Haaren und wirkte äußerst ungepflegt. Obwohl er niemals in Eile zu sein schien, standen ihm regelmäßig dicke Schweißperlen auf der Stirn. Auch seine Kleidung wirkte im Vergleich zu seiner Position und seinem Einkommen eher unpassend. Man sah ihn ausschließlich in zerschlissenen