einzelnen Mitarbeitern gegenüber, meist Frauen, bezeichneten ihn bestimmte Kollegenkreise als Drecksack. Diese Bezeichnung hatte er sich über die Jahre erarbeitet. So wurde eine langjährige Kollegin gefeuert, weil sie ihm angeblich die Tür nicht aufgehalten hatte. Auch ihre Beteuerungen, ihn nicht gesehen zu haben, verhinderten ihren Rauswurf nicht. Panev begegnete sämtlichen Mitarbeiterinnen im Unternehmen mit Geringschätzung und machte auch keinen Hehl daraus. Da er aber der wichtigsten Abteilung vorstand, war er nach der Firmenleitung der mächtigste Mann in der Firma. Viel später einmal sollte auch Tatjana mit ihm zu tun bekommen.
Tatjana lernte trotz ihrer Mehrfachbelastung sehr schnell und beendete mit 27 Jahren ihr Studium als Jahrgangsbeste. Nur kurze Zeit später kränzte sie ihre Ausbildung durch Dissertation. Diese hatte als Thema den Nachweis auf Tierorgane bei der Kosmetikherstellung verzichten zu können. Bei Tierschützern baute sie sich so eine größere Lobby auf, in der eigenen Firma aber stieß sie auf wenig Gegenliebe. Trotzdem erhielt sie wenig später eine Festanstellung, die ihr ein ausreichendes Einkommen sicherte.
Fortan arbeitete Tatjana in der Abteilung zur Herstellung von Kosmetika. Dabei lernten Kollegen ihr offenes Wesen und ihre Sachlichkeit schätzen. Dies war keinesfalls selbstverständlich, da sich etliche Mitarbeiter dem totalitären Firmenstil eher anpassten, um nicht zu sagen, anbiederten. Jeder in der Firma versuchte seine Arbeit so gut wie möglich, aber ohne großes Aufsehen zu verrichten. Kollegen gegenüber verhielt man sich eher zurückhaltend, bei Vorgesetzten rang man um Anerkennung. Dabei konnte einem der Hinweis auf eine Untugend eines Kollegen durchaus zum Vorteil gereichen. Die Schlüsselpositionen der mittleren Führungsebene belegten genau die Leute, die mit den Oberen am besten kommunizierten. Dabei war der Verrat eines Kollegen durchaus karrierefördernd.
Es kam vor, dass Mitarbeiter von eigenen Kollegen erpresst wurden. Eine junge Frau, die als Alleinverdienende zusammen mit ihren Eltern wohnte, sollte eines Teil ihres Einkommens abtreten, weil sie eine der Cremetuben unerlaubt mit nach Hause genommen hatte. Trotz ihrer Beteuerungen, die beinahe wertlose Tube wiederzubringen, wurde sie beim firmeneigenen Werkschutz gemeldet. Sie wurde entlassen, während der Verräter vor versammelter Mannschaft belobigt wurde. So gesehen war die gesamte Firma ein Riesensumpf. Tatjana bekam aufgrund ihrer anfänglichen Naivität davon zunächst nichts mit. Dies sollte sich aber ändern.
Kapitel 3
Eines Tages wurde Tatjana ganz unvermittelt zu ihrem Abteilungsleiter Bubka gerufen. Er schloss die Tür hinter ihr, bat sie darum ihm gegenüber Platz zu nehmen und gab sich dabei äußerst korrekt und freundlich. Nachdem seine Sekretärin beiden ein Erfrischungsgetränk serviert hatte, begann er in angenehmer und entspannter Atmosphäre zu erzählen. Seit einiger Zeit sei ihm durch die erhöhte Aufgabenzuteilung die Arbeit ein wenig über den Kopf gewachsen. Deshalb, so meinte er, denke er darüber nach, eine Stellvertreterstelle einzurichten. Aufgrund ihrer Gewissenhaftigkeit, ihres Durchsetzungsvermögens und ihrer Loyalität, habe er dabei an sie gedacht. Tatjana war mehr als überrascht und scheute sich auch nicht ihre Freude und Stolz zu zeigen. Erfreut über ihre spontane Zusage, machte er sie gleich auf ihren erhöhten Verantwortungsbereich aufmerksam. Sie solle sich deshalb ab sofort den Kollegen gegenüber distanzierter und durchaus auch weisungsbefugt zeigen. Gegen Ende des Gesprächs kam Herr Bubka noch auf einzelne Mitarbeiter zu sprechen und bat dabei auch Tatjana, Wissenswertes über Firmen- und Privatleben beizusteuern. Da sie aber durch ihre Doppelrolle als Vollzeitkraft und die Haushaltsführung für sich und ihren Bruder ausgelastet war, hatte sie privat keinerlei Kontakt zu Kollegen und konnte deshalb nur von der Mitarbeiterin Olga Balakov berichten, die freitags regelmäßig nach Dienstschluss in einem Turnverein aktiv war.
Noch während des Gesprächs mit Tatjana rief Herr Bubka den betreffenden Turnverein an, um sich nach der Anfangszeit des Freitagstrainings zu erkundigen. Genüsslich schien er den Trainingsbeginn, um 19:00 Uhr, zu registrieren und schriftlich festzuhalten. Ob denn Frau Balakov zum Training immer pünktlich erscheine, wollte er von seinem Gesprächspartner wissen. Aus seinen Regungen entnahm Tatjana, dass ihm dies wohl bestätigt wurde.
„Für heute soll es das gewesen sein Frau Dr. Smirnow. Ich möchte aber noch hinzufügen, dass ich sehr froh darüber bin, Sie ab sofort als meine rechte Hand zu wissen.“
Obwohl Tatjana das alles nicht richtig zuordnen konnte, verließ sie zufrieden sein Zimmer und ging wieder an ihre Arbeit zurück.
Wenige Tage später fand eine außerordentliche Sitzung statt, zu der sämtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erscheinen mussten. An der Stirnseite des Saales, hinter einem schweren Tisch, saßen die fünf Mitglieder der Geschäftsleitung, darunter auch Tatjanas Vorgesetzter, Herr Balakov. Schon die Gesichtszüge der Oberen und dazu die spannungsgeladene Stimmung im Saal, ließen auf wenig Angenehmes schließen. Nachdem absolute Ruhe eingekehrt war, ergriff Tatjanas Chef das Wort. Es folgte eine Rede, die an Lautstärke und aufkommender Aggression nicht zu überbieten war.
„Ich habe Sie heute hier versammeln lassen, weil es wieder einmal an der Zeit ist, einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an ihre Pflichten zu erinnern. Ich habe den Eindruck, dass Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit immer mehr um sich greifen. Wir sind jetzt bereits soweit, dass Mitarbeiter zu mir kommen, um sich über die Berufseinstellung mancher Kollegen zu beschweren. Ich sage Ihnen, es ist nur zu verstehen und zudem völlig rechtens, wenn eine Frau Dr. Tatjana Smirnow zu mir kommt, um mir vom unerlaubten Verlassen des Arbeitsplatz der Kollegin Olga Balakov zu berichten. Sie alle, wie Sie jetzt hier versammelt sind, müssen für den Betrug dieser Person an unserer Firma aufkommen! Nehmen Sie solches Fehlverhalten unverantwortlicher Kollegen nicht hin, sondern melden Sie solche Fälle umgehend an Ihre Vorgesetzten weiter. Wir hier, von der Geschäftsleitung, haben beschlossen, Frau Balakov mit sofortiger Wirkung vom Dienst zu suspendieren. Bei Frau Dr. Smirnow möchte ich mich auch im Namen der gesamten Firmenleitung für ihr couragiertes Auftreten bedanken. Ich kann die gesamte Kollegenschaft nur dazu auffordern, sich solch vorbildliches Verhalten anzueignen. Ab sofort ist Frau Dr. Smirnow als stellvertretende Abteilungsleiterin eingesetzt. Gehen Sie jetzt wieder unverzüglich an Ihre Arbeit und versuchen Sie, den hierdurch entstandenen Zeitverlust wieder einzuarbeiten.“
Entsetzt lief Tatjana im Anschluss an die Versammlung zu Herrn Bubka. Kreidebleich stand sie vor ihm und monierte, dass sie das nie gesagt hätte. Er redete beruhigend auf sie ein und erklärte ihr die nötige Maßnahme. Man hätte die Fahrzeit der sieben Busstationen von der Firma zur Trainingshalle ermittelt. Dazu kämen mindestens acht Gehminuten und die Zeit für das Umziehen, zusammen also genau 42 Minuten. Da das Schichtende freitags um 18:30 Uhr war, das Training aber schon um 19:00 Uhr begann, musste Frau Balakov die Firma also um mindestens zwölf Minuten zu früh verlassen haben. Er bedankte sich noch mal bei Tatjana und gab zu verstehen, dass er auch zukünftig auf gute Zusammenarbeit baue.
Einen Einwand Tatjanas ließ er nicht mehr zu. Viel mehr gab er ihr zu verstehen, sie mache noch zu häufig den Fehler zu emotional zu reagieren und dass sie sich somit eine Menge Ärger schaffen könne.
Mit zittrigen Knien ging sie an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Blicke der Kollegen registrierte sie nicht.
Noch Wochen danach besuchte Tatjana, trotz ihrer knapp bemessenen Freizeit, ihre Exkollegin, um diese moralisch wieder aufzubauen und sie bei der Arbeitssuche zu unterstützen. Es ließ sich aber nichts Passendes für sie finden.
Einige Zeit später, Tatjana war auf den Weg in die Moskauer Innenstadt, traf sie Olga Balakov auf dem Tverskoja-Boulevard wieder. Es ist eine der gefährlichsten Straßen. Neben illegalen Autorennen, boomt dort auch das Hauptgeschäft der Prostitution.
Olga fiel ihr sofort in die Arme, konnte ihre Tränen aber nicht unterdrücken. Nachdem sich kein geeigneter Job für sie finden ließ, sah sie ihre letzte Möglichkeit an Geld zu kommen am Tverskoja-Boulevard. Dies machen in Moskau viele Frauen und Mädchen, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Was Tatjana von ihr zu hören bekam, machte ihr Angst. Dabei droht den Frauen die Hauptgefahr gar nicht von den Freiern. Es sind meist unauffällige Normalbürger, die der Verlockung des Unerlaubten nicht widerstehen können. Ihre Angst erwischt zu werden, ist aber kaum geringer als bei den Prostituierten selbst. Wesentlich dramatischer ist es, bei einer Polizeirazzia aufgegriffen zu werden. Die Staatsoffiziere