Dina Sander

Eisjungfer


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ja, wie ich sie bestrafte. Allein dieses Wissen ärgerte mich nun so sehr, dass es für die Männer kein Entrinnen mehr gab.

      Wie kleine Blitzfunken brauste ich auf die fünfzehn Krieger herab. Zwei von ihnen traten gerade zwischen die Bäume des finsteren Waldes. Aber ich war die Ewige Eisjungfer. In dieser Gestalt konnte ich mich ausdehnen. So erreichte ich sie alle, stach mich in ihre Köpfe und dehnte meine Kristalle aus, um den größtmöglichen Schmerz in ihren Gehirnen zu verursachen. Sie sollten sich krümmen und winden und nicht wissen, warum es geschah. Dann, wenn sie sich am Boden wanden, wollte ich vor ihren meine natürliche Gestalt annehmen und ihnen zeigen, was passierte, wenn man mich missachtete.

      Meine Eiskristalle bahnten sich ihren Weg durch den harten Schädelknochen, als wäre er nur ein Tor in eine andere Welt. Tiefer grub ich mich in ihre hochsensiblen Bereiche. Stach zu, drückte und presste und wusste genau, wie ich ihnen weh tun konnte, ohne sie dauerhaft zu schädigen. Es machte Spaß!

      Doch dann gelangten meine Kristalle zu dem Bereich, der sie antrieb, in dem Wuldor sich eingenistet hatte, damit sie seinen Auftrag perfekt erfüllten.

      Oh Eisfunken! Was ich in ihren Gehirnen sah, war einzig der Wille zu töten! Bilder von zerstückelten Wölfen geisterten in ihren Köpfen herum. Graue Wölfe, die blutbespritzt jaulend im Schnee lagen. Wölfe mit aufgeschlitzten Kehlen, aufgeschnittenen Bäuchen, ausgestochenen Augen. Und immer stand der jeweilige Krieger mit blutiger Waffe vor dem getöteten Tier, stellte seinen Fuß auf den Leichnam und schrie: „Für Wuldor!“ Die Bilder waren so ekelerregend, dass sich Zorn in mir ausbreitete. Kräftiger stach ich zu, um meine Abscheu deutlich zu machen.

      Die ersten Krieger sanken auf die Knie unter dem mächtigen Schmerz, den ich verursachte. Sie fassten an ihre Köpfe, stöhnten und brachen zusammen. Immer mehr taumelten, ächzten und fielen nieder. Doch ich hörte nicht auf. Wenn ihr einziger Gedanke Töten war, dann sollten sie auch Schmerz ertragen können!

      Ich fühlte mich verraten. Wuldor hatte gesagt, sie sollten die Wölfe in ihr Dorf zurückjagen. Aber mit seinem Segen hatte er den Auftrag in die Gehirne der Krieger verankert, alle Wölfe ausnahmslos zu töten! Hätte ich das nicht erkannt und sie mit der Suche nach der Jungfrau beauftragt, dann hätten sie die reine Seele genauso zerstückelt wie die Wölfe! Die Seele hätte entfliehen können und ich ... ich hätte warten müssen, bis sie irgendwann in einem neuen Körper wiedergeboren wurde.

      Genug! Es war jetzt genug! Oh, wie sehr ich Wuldor doch hasste!

      Unkontrolliert vergrößerte ich meine Kristalle, tobte mich in den Gehirnen der hartnäckigsten Krieger aus, bis auch sie endlich zu Boden fielen. Ich spürte das Blut, eklig rot und klebrig, wie es an meinen Eiskristallen hing, aus ihnen besudelte, hässliche Klumpen machte. Mühsam zog ich mich zurück, durchstach die Schädelknochen, damit die elendige Flüssigkeit abfließen konnte, und ließ mich in den reinigenden Schnee sinken. Tief tauchten meine beschmutzten Eiskristalle in die weiße, kühle Feuchtigkeit. Ich konnte spüren, wie das klebrige Rot vom Schnee aufgesaugt wurde.

      Als meine Eiskristalle wieder funkelten und schillerten, zog ich mich aus dem kalten Bodengrund zurück und formierte mich zu einer Gestalt. Die härtesten Krieger, die ich schwer verletzt hatte, lagen noch immer mit geschlossenen Augen am Boden. Wahrscheinlich waren sie bewusstlos. Die anderen blickten zu mir herüber, ihre Augen weiteten sich, als sie begriffen. Das bereitete mir Genugtuung.

      Ich nahm meine menschliche Gestalt an, ließ mich aber über dem Boden schweben. Zwar verbrauchte das unnötig magische Kraft, aber ich wollte mit meinen hübschen Schuhen nicht in das rote Nass unter mir treten.

      Absichtlich ließ ich mein Kleid schwingen, damit die Krieger das leise Klirren und Klingen hörten. „Dies soll euch zur Erinnerung dienen“, sagte ich mit hoheitsvollem Ton zu dem hellen Klang. „Wenn ihr ein Klingen hört, dann schaut um euch und über euch, bis ihr den Grund für das göttliche Geräusch gefunden habt. Jede schillernde Schneeflocke, jeder glitzernde Windhauch kann meine Erhabenheit in sich tragen.“

      Die Männer rappelten sich vom Boden auf und starrten mich furchtsam an. Gut!

      „Ich bin das Eis. Ich bin der Tod. Ich bin die Ewige Eisjungfer!“

      Sie neigten vor mir ihre Köpfe und sanken in eine demutsvolle Verbeugung. Ach, wie wohl mir das tat! Mein Ärger wurde gleich ein wenig gemildert. Obwohl ... Wuldors Eigenmächtigkeit brodelte noch immer in mir und trieb meine Gedanken umher. Wen sollte ich jetzt auf die Suche nach der reinen Seele schicken? Ich brauchte sie lebend.

      „Nehmt eure schwachen Freunde und macht euch auf den Weg, Wuldors Befehl zu erfüllen“, sagte ich hoheitsvoll und schwebte noch ein Stück höher. Wenn sie nun aufstanden, mussten sie zu mir nach oben blicken. Auch das gefiel mir. Meine Eitelkeit wurde von diesen Kriegern endlich so befriedigt, wie sie es verdient hatte. Wuldor schmeichelte mir schon viel zu lange nicht mehr. Dieser alte Tattergreis!

      Unsicher standen die Männer auf. Ihr Zögern verärgerte mich. Worauf warteten sie? Dass ich ihnen hoch half? Sollte ich vielleicht diese blutenden Gestalten vom Boden heben?

      „Herrin“, wagte einer der Männer mich anzusprechen. „Herrin, wenn wir die Ohnmächtigen mit uns nehmen, können wir die Wölfe nicht jagen.“

      Gut, dachte ich, dann werden die Tiere nicht sinnlos niedergemetzelt. Ich bin schon deshalb gegen dieses Abschlachten, weil Wuldor es befohlen hat. Ganz bestimmt haben die Wölfe etwas mit der Prophezeiung zu tun. Bevor ich nichts Genaueres weiß, werden keine Wölfe ausgerottet.

      Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, starrte ich den Mann durchdringend an. Er zog die Schultern hoch, neigte den Kopf erneut und blinzelte mir angstvoll in die Augen. Sein Unwohlsein gefiel mir außerordentlich. Deshalb entschloss ich mich, ihm nicht zu antworten.

      Allmählich wurden auch die anderen Männer unruhig. Schließlich fasste sich einer ein Herz und sagte laut und deutlich: „Krieger, lasst uns die Ohnmächtigen nehmen. Es sind nur wenige. Je zwei von uns nehmen einen von ihnen.“

      Zustimmendes Gemurmel erklang und schon machten sie sich daran, meinem Befehl nachzukommen. Auch der Krieger, der es gewagt hatte, meinen Befehl in Frage zu stellen, beeilte sich, einen der blutenden Männer hochzuheben.

      „Herrin!“, riefen alle gemeinsam, ehe sie sich umdrehten und Richtung Wald marschierten. Dabei sprachen sie in einer Art Singsang: „Für Wuldor! Jagd auf die Wölfe!“

      Als sie zwischen den knorrigen Baumriesen verschwunden waren, schwebte ich seitlich von der blutigen Schneemasse weg. Dann erst senkte ich mich zu Boden nieder und atmete tief durch. Über die Krieger hatte ich einen Sieg errungen, doch irgendwie schmeckte er noch nicht so köstlich, wie ich erwartet hatte. Ich tippelte mit der Fußspitze auf und ließ mein Kleid erneut leise Klingen.

      „So, kleine Seele. Du bist irgendwo in diesem Wald. Ich werde dich finden. Du kannst deinen Duft nicht auf ewig vor mir verstecken.“

      Tief atmete ich die Luft ein und suchte nach einer Duftspur von ihr. Doch bis auf den abscheulichen Geruch von frischem Blut konnte ich nichts wahrnehmen. Vor Ekel verzog ich mein puppenhaftes Gesicht und zog einen Schmollmund. Motzig stampfte ich mit einem Fuß auf und versank tief in der Schneemasse. Verärgert knurrte ich und zog den Fuß heraus. Nun waren mein Schuh und mein Strumpf nass.

      „Sobald ich dich gefunden habe, kleine Seele, werde ich dich leiden lassen“, schwor ich und kniff wütend die Augen zusammen. „Für alles, was ich jetzt durchmachen muss, werde ich dich quälen.“

      Kapitel 9

       KJELLRUN

      Mit Genuss leckte Kjellrun den Knochen des Schneehasen ab. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie Fleisch aß, das sie nicht selbst gejagt hatte. Irgendwie schmeckte es deshalb noch besser. Aber vielleicht dachte sie das auch nur, weil sie solch einen Hunger hatte.

      Das Feuer glomm vor sich hin, Sjard seufzte vor Wohlbehagen und sie warf ihren Knochen weit weg, um sich das letzte Fleischstück zu nehmen. Das Fleisch für den nächsten Morgen hatte