Dina Sander

Eisjungfer


Скачать книгу

es konnte nicht Wuldor gewesen sein.

      Kjellrun stolperte und stieß gegen Sjard.

      „Pass doch auf“, schimpfte der. „Mädchen, wir haben einen weiten Weg vor uns, da musst du all deine Sinne bei dir haben. Ich will es nicht sein, der Thore in die Hände fällt mit seiner Braut.“

      „Ich bin nicht Thores Braut“, wehrte sie sich.

      „Ob du es sein willst oder nicht, du bist es. So ist es das Gesetz unseres Dorfes. Wenn du keinen anderen Jäger findest, der sich um dich sorgt, wird Thore dein Mann.“

      Es tat so weh, diese Worte aus Sjards Mund zu hören. Hielt der Freund denn gar nicht mehr zu ihr? Erst wollte er nicht ihre Mutter beschützen und jetzt empfand er sie selbst als Ballast.

      „Wo hast du überhaupt deinen Beutel mit Essen und Trinken?“, fragte Sjard unvermittelt.

      „Ich ... ich ... den muss ich vor deinem Fenster vergessen haben“, gestand Kjellrun und gab einmal mehr zu, dass sie heute ihre Gedanken nicht beisammenhatte. Konnte es noch schlimmer kommen?

      Kapitel 6

       EISJUNGFER

      Wo blieben die Krieger? Sollte ich verfluchen, dass Wuldor und damit ich keine Macht über die Zeit hatten?

      Unruhig schritt ich in der eisigen Kälte auf und ab, hinterließ eine glatte Spur auf dem Schnee. Zorn trübte meine Sinne. Alles in mir verzehrte sich nach dieser reinen Seele, dieser Unmöglichkeit. Ich wollte sie haben. Jetzt!

      „Krieger!“, schrie ich erneut in den Himmel. Meine Worte kristallisierten zu kleinen Eispartikeln, die von einem kräftigen Windbrausen mitgenommen wurden. Ich hob meine Arme, mein weißes Frostkleid mit den glitzernden Spitzen klirrte leise und schickte Eisfunken über den Burghof. Ich drehte mich, verstärkte das Glitzern und Klirren. Immer mehr und mehr Eisfunken wirbelten um mich, hoch in die Luft, höher und höher. Mit gespreizten Fingern sandte ich die Kristalle in einer immer schneller werdenden Spirale zum Himmel hinauf. Das matte Licht der Nachmittagssonne brach sich in jedem einzelnen Funken, vertausendfachte sich, sprang durch die Luft fort und verteilte sich über ganz Eilifuris.

      „Is neisti, fowthe bardagamathur.“ So hell wie die Funken, so hell vibrierte meine Stimme. Machtvolle Worte schickte ich mit den Funken. Ich wiederholte die magischen Worte, gesprochen in der Sprache der Unendlichen, die kein Sterblicher hören oder verstehen konnte, die sich aber tief in die Geister legte und diese zwang, mir zu folgen. Lauter sprach ich die Worte. „Is neisti, fowthe bardagamathur!“

      Die Eiskristalle funkelten in allen Farben und ihren Schattierungen: rot, blau, gelb, orange, grün, violett. Prachtvoll und lebendig schillerten sie, erblühten in einer Schönheit, wie nur ich sie erkennen und genießen konnte, die wahre Herrscherin über den Winter und das ganze Land.

      „Is neisti, fowthe bardagamathur!“

      Ein letztes Mal rief ich meinen Befehl. Aus meinem Mund entwich ein Strom an gleißenden Eispartikeln, die sich mit den Kristallen und den Strahlen der untergehenden Sonne mischten. Es würde einen wunderschönen, bunt schillernden Eisregen über Eilifuris geben! Meine Augen strahlten vor Freude. Alle würden ihn sehen. Alle würden spüren, wie machtvoll ich war. Ich! Die Ewige Eisjunger!

      „Mein ist Eilifuris!“, schrie ich und beendete mein magisches Drehen, schaute hoch in den Himmel hinauf und beobachtete den Flug der glitzernden Pracht. „Niemand stellt sich mir in den Weg!“

      „Meine kleine Eisblume.“

      Erschrocken zuckte ich zusammen. Langsam drehte ich mich um und sah im Tor der Burg Wuldor stehen. Was machte er denn da? Meine glatte Stirn furchte sich, was mich noch mehr erzürnte. Dieser dumme, schwache Gott durfte die Burg nicht verlassen, niemals! So lange ich diese neue Jungfrau nicht gefunden und in mich gesaugt hatte, war er in Gefahr, war ich in Gefahr.

      „Mein Gebieter!“, rief ich und eilte zu ihm. Mit einem lieblichen Lächeln ergriff ich seinen Arm und wollte ihn ins Innere zurückleiten. Doch er hielt mir stand und zeigte, dass er mehr Kraft in sich trug, als ich erwartet hatte. Mit kindlichem Staunen blickte ich zu ihm hoch. „Mein Gebieter?“

      „Warum hast du meine Krieger gerufen? Warum, ohne mich zu fragen?“

      In mir brodelte es. Seine Krieger. Pah, natürlich waren es scheinbar seine, doch tatsächlich gehorchten sie mir und deshalb stand es auch mir zu, sie zu rufen, wann immer ich sie brauchte. Jetzt, genau jetzt brauchte ich sie dringender denn je. Bald brach die Dunkelheit herein. Dann wollte ich sie haben, diese unmögliche Seele. Die Krieger mussten meine Beute finden, damit ich nicht ewig herumirrte. Denn, auch wenn es mir gar nicht gefiel, musste ich zugeben, dass ich diese eine Jungfrau nicht ohne Hilfe finden konnte. Ihr Geruch verschwand jedes Mal, ehe ich sie orten konnte und zuschlagen.

      „Eisblume, warum hast du meine Krieger gerufen?“ Wuldors Stimme wurde kräftiger und nachdrücklicher.

      In mir wütete ein Eisfeuer, klirrend und kalt. Auch das hier sollte nicht möglich sein! Er sollte weder sein Bett verlassen können noch mir herausfordernde Fragen stellen. Es konnte nur mit der reinen Seele zu tun haben, die geboren worden war aus sich selbst heraus und keiner einzigen Wiedergeburt. Eine absolute Unmöglichkeit!

      Mein Hass auf diese fremde, unbekannte Jungfrau wuchs ins Unermessliche.

      „Mein Gebieter“, begann ich leise. Ich musste mir schnell eine glaubwürdige Erklärung einfallen lassen. Wenn ich ihm von der neuen Jungfrau erzählte, wäre es mein eigener Schaden. Doch was konnte so gefährlich für Wuldor sein, dass der magische Ruf der Krieger unbedingt notwendig war? Schnell! Mir musste schnell etwas einfallen!

      Frevler? Nein, die konnten über die normale Dorfgemeinschaft bestraft werden.

      Zu wenig Gottesabgaben? Angesichts der reichlichen Opfergaben in der Ruhmeshalle war das unglaubwürdig.

      Oh Eisfunken! Wie sollte mir etwas einfallen, wenn sich all meine Gedanken nur um diese jungfräuliche Seele drehten? Mühsam unterdrückte ich ein wütendes Knurren und presste die Lippen fest zusammen, bis sie nur ein farbloser Strich in meinem hellen Gesicht waren.

      Da! In mir zuckte eine Idee hoch. Ganz schwach inmitten des Eisfeuers in meinem Inneren. Ich griff nach ihr, zog sie empor an mein Bewusstsein und begann zu lächeln. Ein schadenfrohes, eiskaltes Lächeln. Ja, genau das war der richtige Grund! So würde ich nicht nur einen guten Grund für Wuldor haben, ich würde auch endlich dieses verhasste Dorf schwächen!

      „Gebieter, die Wölfe von Ulvershom haben ihr Dorf verlassen und streben durch den Svartskog bis nach Hjolmfort. Es herrscht große Angst in den Dörfern jenseits des dunklen Waldes.“

      „Die Wölfe verlassen ihr Territorium?“ Wuldor hob witternd seinen Kopf und blickte zur Burgmauer. „Dann hat es begonnen?“

      Verwundert hörte ich auf die Worte und begriff nicht. Sprach da Verwirrtheit aus ihm? Doch er klang überaus sicher und ruhig, so klar und deutlich wie seit langem nicht mehr. Es beunruhigte mich, dass er von dieser anderen Jungfrau Kraft erhielt. Wie konnte das überhaupt sein? Er hatte sie weder gesehen noch berührt, wie also konnte sie ihn stärken? Es musste etwas anderes sein, das ihm diese Macht verlieh. Aber was?

      „Was hat begonnen, Gebieter?“, fragte ich voll unruhiger Anspannung und ahnte tief in mir, dass ich es erfahren musste, wenn ich überleben wollte.

      „Die Prophezeiung von Eilifuris.“ Seine Stimme war tief und dröhnend. Ein Schauder durchfuhr mich. „Die Prophezeiung der Svartramathur.“

      Eine Weile standen wir nebeneinander. Ich grübelte über seine Worte nach und er, genau jetzt war es mir gleich, was er überlegte oder tat. Wenn es eine Prophezeiung gab, von der ich nichts wusste, so war das noch gefährlicher als diese neue Jungfrau.

      Oder ... war sie die Prophezeiung?

      Wer oder was war Svartramathur? Wieso war mir das in all den Jahrhunderten verborgen geblieben? Weshalb hatte ich in meiner sterblichen