Dina Sander

Eisjungfer


Скачать книгу

hatte ihn verdorben. Mit meinem Duft. Denn ich war nicht bereit, zu verlieren, mein Leben von einer neuen Erwählten aussaugen zu lassen. Niemals!

      So atmete ich genussvoll die letzte reine Seele in mich. Spürte sie meine Kehle hinabrinnen, wie ein sahniger Likör, feurig, cremig, belebend. Die wundervolle Reinheit erfrischte jede Zelle in mir, ließ meine Macht anschwellen.

      Nun war ich unbesiegbar.

      Stärker als Wuldor!

      Fast schon schmerzhaft schreckte ich aus der Erinnerung. Da war er wieder, der Geruch, der unmögliche Duft.

      „Nein!“ Ich kreischte es laut in die aufkommende Dämmerung. „Nein!“ Hass blitzte in meinen eisblauen Augen auf. Meine Nasenflügel weiteten sich, während ich wild nach dem Blut schnupperte. Doch wieder war der Duft verschwunden. Als hätte ich ihn mir nur eingebildet. Von Zorn erfüllt stampfte ich mit dem Fuß auf, doch bis auf das leichte Klirren meines Kleides war nichts zu hören. Noch einmal stampfte ich wütend auf. Der Schnee schluckte jedes Geräusch und ließ mich zornerfüllt zurück.

      „Ahhh! Ich kann mich nicht irren, niemals!“ Meine wunderschöne, helle Stimme hallte über den Burghof. Mein weißes Frostkleid klirrte bei jeder ärgerlichen Bewegung. Die Kristallspitzen schimmerten und funkelten im rötlichen Schein der untergehenden Sonne. Ich war so entzückend, so lieblich, das allerschönste Wesen von ganz Eilifuris und das mächtigste Geschöpf. Niemals konnte ich mich irren!

      Ich dachte an das kleine Mädchen, zweimal wiedergeboren. Die letzte Jungfrau von ganz Eilifuris. Die letzte Seele, die mir hätte gefährlich werden können. Vor zwei Tagen war sie die letzte Seele gewesen, die in keinem ihrer Leben jemals entweiht worden war. Ich hatte es gespürt, gerochen und dann gewusst.

      Und heute?

      Der Wind hatte mir den Geruch einer Jungfrau zugetragen. Einer Jungfrau, die so frisch und rein war, so makellos, dass sie noch nie wiedergeboren worden war. Vollkommen unmöglich! Denn es gab kein neues Leben mehr. Es gab nur den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten. Es gab kein frisches, neues Leben! Nie, nie, nie!

      Noch einmal stampfte ich auf, obwohl ich wusste, dass niemand es hören konnte. Dafür klirrte mein Kleid umso lauter. Das befriedigte mich ein klein wenig in meinem Zorn.

      Wuldor hatte vor Generationen entschieden, dass keine neue Seele geboren werden sollte und die erbärmlichen Menschen aussterben sollten. Er war ihrer überdrüssig geworden. Nur meine Nähe und Lieblichkeit konnte ihm noch Freude beschweren.

      Meine Seele, so hatte es mir damals meine Mutter erzählt, war die letzte neugeborene Seele gewesen, die sich ihm jungfräulich in den Weg hätte stellen sollen. Ich hätte ihn vernichten sollen, damit sein Bann gebrochen und der andauernde Winter besiegt würde.

      Ich richtete mich hoch auf, mein kleines Köpfchen reckte sich und meine Nase war hoch erhoben. In dieser Position zeigte ich allen meine Macht und Herrlichkeit. Ich allein war auserkoren ewig zu leben und zu herrschen. Mein Atem beschleunigte sich voller Hass und Zorn auf diese Unmöglichkeit.

      Sie musste sterben!

      Bevor sie Wuldor erreichte.

      Denn sie hatte heute die Macht, die ich einst gehabt hatte.

      Ich hatte damals versagt ... sie musste jetzt versagen!

      Niemals würde ich zulassen, dass sie Wuldor vernichtete, der schwach geworden war und leicht zu besiegen. Wenn er starb, was war ich dann? Ich würde nicht länger die Krieger auswählen, Festgelage abhalten und die schmackhaftesten Speisen erhalten. Kein Wesen würde mich mehr fürchten und sich vor mir verstecken. Ich würde altern, hässlich werden, kränklich und eines Tages sterben. All die kostbaren Seelen in mir würden mit mir sterben. Mein Suchen und alle Eroberungen der letzten Generationen wären sinnlos gewesen.

      Das durfte nicht geschehen!

      „Krieger!“ Laut schallte meine Stimme durch die eisige Luft. Der Wind würde sie über ganz Eilifuris wehen. Sie würden sie hören und in wenigen Stunden durfte ich die Männer erwarten. Und dann ... Oh eisige Kälte! ... musste die Jungfrau, die nicht existieren konnte, um ihr Leben fürchten! Denn ich war die Ewige Eisjungfer, die wahre Herrscherin über Eilifuris!

      Kapitel 4

       KJELLRUN

      Es knackte und noch immer zuckte Kjellrun bei dem Geräusch zusammen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich jedes Mal, wenn sie wieder einen unheilvollen Ton vernahm, so wie jetzt das langgezogene dumpfe „Uuuhhhh“ nach dem leisen Knacken. Sie erstarrte, riss die Augen weit auf und spitzte die Ohren. Ganz langsam drehte sie ihren Kopf.

      Woher kam das Geräusch? Was war das überhaupt für ein Geräusch? Welches Tier machte so einen schaurigen Ton? Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit, die hier im Dickicht des Svartskog herrschte. Alles war wie in ein undurchdringliches Tuch eingehüllt, finster und irgendwie warm, viel wärmer als die Welt da draußen im wilden Schneetreiben. Aber der Wind jagte den Schnee zwischen die Bäume und verteilte die weiße Masse überall. So war es auch hier weiß, obwohl keine Schneeflocken von oben ihren Weg durch die dichten Äste und Zweige fanden, auch wenn kein einziges Blatt an ihnen war.

      Blätter, dachte Kjellrun. Sie hatte irgendwann, irgendwo davon gehört. Vor vielen Generationen, als die Welt noch nicht im ewigen Eis versunken war und Eilifuris noch nicht unter der strengen Herrschaft von Wuldor gestanden hatte.

      Damals, eine Zeit, an die sich kein Lebender mehr erinnern konnte. Sie war eine schwache Ahnung in den wiedergeborenen Seelen und brachte Geschichten und Märchen hervor, Legenden für die Dorffeiern bei Neumond, wenn alle um ein riesiges Feuer saßen und aßen und tranken.

      Damals hatten Bäume Blätter getragen, grün und filigran, zerbrechlich und doch biegsam. Blätter, die sich mit den Zweigen im Wind bogen, Schutz vor einer blendenden Sonne boten. Blätter, dachte Kjellrun, sie könnten den Schnee fernhalten. Wieso halten Zweige den Schnee und das Tageslicht fern?

      Wieder ertönte der langgezogene, klagende Laut: „Uuuhhhh.“

      Kjellrun rieb sich über die Arme. Sie konnte nicht ausmachen, woher der Ton kam. Aber es war sicher besser, wenn sie nicht stehenblieb und darauf wartete, dass das Wesen sie fand. Vielleicht war es ein Krieger. Konnten die Krieger Wuldors nicht jeden Laut nachahmen, um ihre Beute leichter zu fangen?

      „Ach was“, murmelte sie halblaut zu sich selbst, „warum sollte Wuldor Krieger nach mir schicken? Ich bin nur eine Jungfrau, die auf der Flucht vor einem ungeliebten Freier ist. Was sollte Wuldor mit mir anfangen?“

      Doch während sie die Worte aussprach, erkannte sie die Verzweiflung in ihnen. Denn ihr wurde mehr und mehr bewusst, dass sowohl Wuldor als auch die angebliche Ewige Eisjungfer gerade sie als Jungfrau sehr gut gebrauchen konnten.

      Wenn dieser schreckliche Laut nicht bald verstummte und nicht wenigstens ein wenig klägliches Licht durch die mächtigen Arme der Baumriesen zu ihr nach unten gelangte, würde sie noch darum betteln, dass Thore sie fand. Kjellrun war es nicht gewohnt, in solch einer Düsternis umherzuschleichen. Der nördliche Teil vom Svartskog war viel offener und lichter. Dort gab es zwar einige Dickichte, in denen sich Hasen oder Eisfüchse ihre Behausungen eingerichtet hatten, doch immer wieder wurden die dunklen Stellen von hellen Plätzen abgelöst. Nicht hier im östlichen Teil des riesigen Waldes. Dabei war Kjellrun noch gar nicht lange unterwegs. Es konnte nicht viel Zeit verstrichen sein, seit sie aus dem Fenster bei Sjard geklettert war. Aber mit jedem Schritt in den Wald hinein, schien er sie mehr zu verschlucken, den Rückweg auf geheimnisvolle Weise dichter und undurchdringlicher zu machen.

      Unsinn, dachte sie und schüttelte unwillig den Kopf. Allmählich trübten das dämmrige Licht und das schaurige Heulen ihre Sinne.

      Zögerlich tastete sie sich voran, vorsichtig mit den Füßen auf den Boden tappend. Splitternde Zweige knackten unter ihren Schuhen. Die Eisschicht des Schnees klirrte leise, wenn sie unter ihrem Gewicht splitterte. Es waren Geräusche, die Kjellrun kannte. Doch hier, in der Undurchdringlichkeit des Svartskog,