Dina Sander

Eisjungfer


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nicht auf am Rande des Weges, dicht neben den winterkahlen, schneebedeckten Sträuchern und Büschen. Alles hatte ich so sorgsam geplant. Sogar meine braunen Haare hatte ich unter einer verwaschenen, grauen Wollmütze versteckt. Alles an mir war perfekt getarnt. Doch mein Atem verriet mich. Er passte nicht hierher. Kein Tier war in dieser Kälte, um diese Uhrzeit noch unterwegs. Jeder, der diese feinen, weißen Wölkchen sah, wusste sofort, dass sie zu einem Menschen gehörten, zu einem Feind.

      An meinen Wimpern klebten kleine Eiskristalle, meine Wangen waren totenbleich, meine Lippen leicht bläulich.

      Die Mauer war schon so nah. Nur noch wenige Meter und ich hätte die Nische erreicht, in der ich mich verkriechen konnte, um alles zu beobachten und Rettung zu bringen.

      Aus meinen Augen kamen keine Tränen, dafür war es viel zu kalt. Sie brannten vor Schmerz, als die Tränen in ihnen wegen der Kälte erstarrten. Nur langsam und schleichend drang der Gedanke in mein Hirn, dass ich umkehren musste. Ich hatte versagt. Wieder einmal.

      Wuldor hatte auch heute den Sieg davongetragen. Mein Dorf würde mich hassen. Meine Mutter ... in mir zerbrach etwas. Mein Herz zersplitterte in tausend kleine Eisstücke. Sie würde mich nicht mehr in die Hütte zurücklassen. Es war die dritte Nacht, in der ich versagt hatte. Ich und jeder im Dorf wusste, was das bedeutete. Doch ich wollte es nicht glauben. Ich wollte nicht!

      Mein kleines Herz schlug angstvoll und drohte die Rippen zu brechen, unter denen es wild hämmerte. Was immer ich auch hoffte, es war zu spät.

      Es war Neumond. Wuldor verlangte ein Opfer. Wenn ich nicht den Fluch brechen konnte, dann musste ich mich ihm anbieten. Ich war die letzte reine Jungfrau in unserem Dorf. Die letzte Hoffnung. Doch ich hatte versagt, weil ich versäumt hatte, ein Tuch für meinen Mund mitzunehmen.

      Mit brennenden Augen und zerbrochenem Herzen richtete ich mich auf. Da kam er auch schon. Wuldor. Grünlich schimmernd näherte sich sein Gefährt durch die eisige, weiße Luft. So majestätisch, so prachtvoll, so angsteinflößend wie er.

      Er blieb neben mir stehen. Mein weißer Atem, meine kleine Gestalt, alles bot sich ihm dar. „Komm.“ Er streckte seine Hand nach mir aus. Ich musste ihm folgen. Wie all die Jungfrauen zuvor, würde nun ich eine Eisjungfer werden und das Land mit Frost und Kälte überwältigen. Meine Herrschaft würde ewig währen. Denn ich war die letzte Jungfrau meiner Generation, die letzte Jungfrau von Eilifuris. Wuldors Fluch konnte nie mehr gebrochen werden.

      Ich war die Ewige Eisjungfer.

      Kapitel 1

       KJELLRUN

      „Kjellrun! Kjellrun, wo bist du? Komm nach Hause, die Dunkelheit bricht herein!“

      Kjellrun rollte mit den Augen und zischte: „Ja ja ja, wenn die Schatten mich berühren, dann kommt die Eisjungfer und holt mich. Vielleicht sollte ich es einfach mal ausprobieren.“

      Ärgerlich stand sie auf, strich sich den Schnee von der Hose und verzog missmutig das Gesicht. Jeder wusste, dass die meisten Tiere in der Dämmerung auf Nahrungssuche gingen. Warum musste sie dann immer ins Haus? Ihre Freunde brauchten sich auch nicht verstecken. Es war so ungerecht, ein Mädchen zu sein. Das alles nur wegen einer Legende, einem dummen Kindermärchen.

      Zornig stapfte sie durch den Schnee nach Hause. Sie konnte ihre Mutter schon von weitem sehen. Eine mittlerweile alte Frau, die mehr weiß als braun in ihren Haaren hatte. Ihre Gestalt war von einem langen, harten Leben gekennzeichnet, der Rücken leicht gebeugt, alles dürr und knochig. Doch ihre braunen Augen hatten noch immer das jugendliche Funkeln und ihre Stimme war kräftig und laut. Sie konnte ganz Hjolmfort überschallen. Das war auch ein Grund, warum Kjellrun ihre Jagd aufgegeben hatte. Nach dem lauten Ruf war sowieso jedes Beutetier meilenweit verschwunden.

      Seufzend schaute Ingvild auf ihre widerspenstige Tochter, als sie fast bei ihr war. „Ach, Kind, Kjellrun, es ist doch nur zu deinem Besten“, sagte sie mit leiser Stimme. Sie streckte eine Hand nach dem schlanken Mädchen aus, deren Augen fast silbern glänzten, so hell waren sie. Manche sagten, Kjellrun wäre etwas Besonderes, da sie als einzige keine blauen oder braunen Augen hatte. Doch das war Unfug. Wahrscheinlich war ihr Blau nur so hell, dass es silbrig wirkte.

      „Mutter, ich bin kein kleines Kind mehr“, entgegnete Kjellrun und verzog missmutig ihr Gesicht. Wie immer hatte sie keine Lust, nachzugeben und um Entschuldigung zu bitten. „Ich glaube nicht an dieses Märchen von der Eisjungfer. Wenn es sie wirklich gäbe, warum holt sie dann keines der Mädchen? Warum hat noch niemand sie gesehen?“

      „Shhh“, machte die Mutter und blickte erschrocken. Sie fasste nach dem Arm der Tochter und zog sie hastig mit ins Haus hinein. „So darfst du doch nicht reden, wenn die Schatten so nah sind. Was ist, wenn sie dich hört und zur Strafe für deinen Übermut heute Nacht noch holt?“

      Wieder rollte Kjellrun nur mit den Augen. Warum ihre Mutter nicht von diesem Märchen ablassen konnte, würde sie wohl nie verstehen.

      „Solange du eine Jungfrau bist, mein Kind, droht dir Gefahr. Ich spüre das. Glaub mir.“

      Kjellrun schüttelte den Kopf und verengte ihre Augen zu kleinen Schlitzen. Jetzt war sie richtig zornig. Immer dieses dumme Gerede über Jungfräulichkeit. Als ob das einen Sinn ergab! Ihre Freunde, da war sie sich sicher, waren auch noch jungfräulich. Na ja, einige zumindest. Sjard auf jeden Fall, da war sie sich absolut sicher. Immerhin war er zwei Jahre jünger als sie und ... und ... ach, was sollte das ganze Nachdenken? Sjard war Jungfrau, genau wie sie, da brauchte sie nicht lang überlegen. Wenn er in der Dämmerung jagen gehen durfte, warum sie nicht?

      „Diese dämliche Eisjungfer soll mich ruhig holen“, zischte Kjellrun aufgebracht. „Ich werde ihr sagen, was ich von ihr und ihrer dämlichen Jungfräulichkeit halte. Es wird Zeit, dass sie das Lager eines Mannes teilt, damit wir Mädchen endlich in Frieden gelassen werden!“

      Entsetzt schlug Ingvild die Hände vor den Mund. Ihre Augen waren ganz groß. Für einen Augenblick starrte sie fassungslos auf ihre Tochter und konnte nicht begreifen, was diese soeben gesagt hatte. Angst blitzte in Ingvilds braunen Augen auf.

      Es war Kjellrun egal. Trotzig funkelten ihre silbergrauen Augen. Sie stemmte die Arme in die Seiten ihres muskulösen, schlanken Körpers. Mochte die Mutter erschrocken sein, sie war zu alt, um sich noch erziehen zu lassen. Immerhin war sie die Ernährerin in dieser Familie, die leider nur aus ihr und ihrer Mutter bestand. Doch ohne ihre Jagdkenntnisse, würden sie keine Beute haben. Es reichte kaum für sie beide, aber wenn sie jeden Mondumlauf etwas zum großen Dorffest beisteuern mussten, war es immer ihr Verdienst, dass sie nicht eines Tages fortgejagt wurden. Ingvild wusste das, also warum verbot sie ihr immer noch in den Schatten zu jagen, wenn die meisten Beutetiere unterwegs waren?

      „Thore hat heute vorgesprochen“, sagte Ingvild schließlich.

      „Thore?“, wiederholte Kjellrun ungläubig und ihre Augen blitzten zornig. „Darum das Gerede über die Eisjungfer? Es geht gar nicht um meine Sicherheit, sondern darum, dass du mir Angst machen willst, damit ich mich binde?“

      Voller Besorgnis blickte Ingvild ihr Kind an. Ihre braunen Augen wirkten fast schon leidend. „Er ist ein guter Mann. Der beste Jäger im Dorf, es gibt keinen Besseren.“

      „Er ist ein arroganter, selbstverliebter Bär“, erwiderte Kjellrun und verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust.

      „Thore hat schon ein eigenes Haus. Er lebt nicht mehr bei seinen Eltern. Dennoch jagt er für sich und für sie. Er ist ein guter Mann, ein wirklich guter Mann.“

      „Nein.“

      Seufzend senkte Ingvild den Kopf. „Ich habe ihm gesagt, dass du dich geehrt fühlst und ihn morgen zur Jagd begleiten willst.“

      „Das hast du nicht getan!“ Mit offenem Mund starrte sie ihre Mutter an. Fassungslos fielen ihre Arme herunter.

      Wenn eine Jungfrau einen Mann zur Jagd begleitete, kam das einer Vorbindung gleich. Direkt nach der Jagd übergab der Mann die Beute als Kaufpreis der Familie der Jungfrau. Danach folgte eine