Dina Sander

Eisjungfer


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den Familien auszurichten. Und dann ... nun ... nach dem Fest, am nächsten Morgen, war die Jungfrau keine Jungfrau mehr. So einfach war das.

      „Kjellrun, die anderen Mädchen in deinem Alter haben entweder einen Mann und Kinder, oder sie haben kranke Eltern, um die sie sich kümmern müssen.“

      „Du bist krank“, warf Kjellrun hastig ein, „oder zumindest bist du hilfsbedürftig. Du kannst nicht ohne mich an Fleisch kommen.“

      „Das habe ich alles schon mit Thore besprochen. Er ist ein guter Mann, das habe ich doch gesagt. Er stimmt zu, solange für mich zu sorgen, bis meine Seele einen neuen Körper wählt.“

      „Da mache ich nicht mit. Auf gar keinen Fall. Eher gebe ich mich ...“ Sie überlegte hastig, mit welchem ihrer Freunde sie das Lager teilen würde, um endlich diese verhasste Jungfräulichkeit loszuwerden. Aber eigentlich gab es keinen. Es waren schließlich ihre Freunde! Mit einem Freund teilte man nicht das Lager. Doch wenn es unbedingt sein musste, gab es eigentlich nur einen, dem sie erlauben konnte, sich ihr … irgendwie … zu nähern.

      „Eher gebe ich mich Sjard hin!“, rief sie trotzig. „Dann bin ich keine Jungfrau mehr und kann auch in der Dämmerung jagen. Wir werden nie wieder Not leiden, weil ich zu wenig Fleisch bekomme. Sjard ist auch ein guter Mann.“

      „Kind!“ Entsetzt starrte Ingvild die Tochter an. „Sjard ist ein Kind, er ist kein Mann. Er kann dich nicht ernähren.“

      „Das soll er doch auch gar nicht. Er soll mir nur die Jungfräulichkeit nehmen, damit ich auch in den Schatten jagen kann. Ohne dass du vor Angst vergehst. Denn diese Eisjungfer, an die glaube ich immer noch nicht.“

      Ingvild schlug die Hände vor ihr Gesicht. „Was habe ich nur getan, dass ich solch eine Seele geboren habe?“, murmelte sie und schüttelte den Kopf. „Wieso habe ich nie zuvor von solch einer rebellischen Seele gehört?“

      Kjellrun presste die Lippen fest zusammen. Ihr ganzer Körper bebte vor Zorn und ehe sie etwas Falsches sagte, stürmte sie aus der Stube in den hinteren Bereich, wo die Schlafkammern lagen. So kräftig sie konnte, warf sie die Holztür hinter sich zu und war froh, dass die beiden Räume nicht durch ein Fell abgeteilt waren, so wie es die Schlafkammern waren.

      Sie ahnte nichts von den Sorgen ihrer Mutter. Es war ihr auch gleich. Denn jetzt ging es um ihre Zukunft. Um ihre eigenen Sorgen. Sie hatte den Bereich gleich hinter der Tür. Mit immer noch funkelnden Augen zerrte sie ihr Bettgestell nach ganz hinten in die Ecke und warf sich darauf. Sie würde heute ohne Abendessen schlafen gehen. Dieser dumme Streit hatte ihr den Magen verdorben, es rumorte in ihm und sie wusste, jeder Bissen würde schwer wie ein Stein in ihm liegen. Abgesehen davon hatte sie wieder einmal viel zu wenig erjagt. Das magere Schneehäschen reichte gerade, um eine Person satt zu kriegen. Ihre Mutter brauchte das Essen dringender. Sie konnte sich doch nicht ständig von Kräutern und Eisbeeren ernähren.

      Seufzend legte sie einen Arm über ihre Augen. „Thore“, murmelte sie und verzog ablehnend die Mundwinkel. „Warum von allen Männern des Dorfes ausgerechnet er?“

      Sie konnte ihn nicht leiden. Bei ihm war sie absolut sicher, dass er keine Jungfrau mehr war. Außerdem war sie sicher, dass er dafür gesorgt hatte, dass einige Mädchen, die jünger als sie selbst waren, keine Jungfrauen mehr waren. Als sie erst zwölf Jahre alt gewesen war, hatte sie ein Gespräch zwischen ihm und seinen Freunden belauscht. Sie hatte sich hinter einem Haufen Holzscheite versteckt, als die grölende Männertruppe sich genähert hatte. Thore hatte sich damit gebrüstet, die kleine Björk vor der Eisjungfer gerettet zu haben. Im ersten Moment war Kjellrun hin und her gerissen gewesen. War er ein Held, weil er die vierzehnjährige Björk gerettet hatte? Gab es die Eisjungfer denn wirklich und er hatte sie gesehen und besiegt? Doch als sie das dreckige Gelächter der Männer vernahm und jeder von ihnen aufzählten, wen er schon alles vor der Eisjungfer gerettet hatte, begann Kjellrun trotz all ihrer Unschuld und Kindlichkeit zu verstehen. An jenem Tag hasste sie Thore.

      Irgendwann im Laufe der Jahre wurde aus dem Hass Verachtung. Als sie aber älter wurde und sich dem Erwachsensein näherte, fing Thore an, ihr nachzustellen. Da wurde aus ihrer Verachtung Ablehnung und auch ein klein wenig Angst. Er war groß und stark. Mächtig wie ein Bär. Wenn er ein Reh erlegt hatte, brauchte er es nicht direkt heimtragen. Er konnte auch noch ein zweites erjagen. Einmal hatte er einen kleinen Bären erlegt und heimgebracht, damals war er gerade zwölf Jahre alt gewesen. Er hatte das gefährliche Tier allein gejagt und allein getragen und seinen Eltern heimgebracht. Seitdem bewunderten ihn alle Mädchen und Frauen von ganz Hjolmfort. Jede, die noch nicht gebunden war, sehnte sich nach seiner Aufmerksamkeit. Und wenn die schmutzigen Geschichten, die ihre Freunde ab und zu erzählten, nicht ganz gelogen waren, lag Thore auch bei Frauen, die schon einen Partner hatten.

      Diesen Mann sollte sie nun zum Partner nehmen? Niemals! Sie konnte sowieso nicht begreifen, was Thore von ihr wollte. Alle anderen Männer mieden sie, weil sie so blass war, bleicher als jeder in Hjolmfort. Ihre silbergrauen Augen und fast weißen Haare, in denen nur einzelne braune Strähnen schimmerten, waren einzigartig. Außerdem war sie nicht ansprechend gerundet und auch ihre Brüste blieben flacher als die der anderen Mädchen in ihrem Alter. Das machte sie zu einem misstrauisch beäugten Wesen.

      Oder bildete sie sich das nur ein? Vielleicht hatten die jungen Männer Angst vor ihr, weil Thore sie haben wollte? Er wollte immer das Besondere. Also durfte niemand Interesse an ihr zeigen, sonst würde Thore ihm schon zeigen, was er davon hatte - nichts nämlich, außer gebrochener Knochen.

      Kjellrun seufzte.

      Vielleicht hatte ihre Mutter Recht. Sie musste endlich einen Mann nehmen, die Jungfräulichkeit verlieren und in den Schatten jagen gehen. Mit ihren siebzehn Jahren war sie schon viel zu lange Jungfrau. Was war denn schon dabei, wenn sie mit einem Mann zusammen lag? Ihre Mutter hatte es doch auch getan, einst, als ihr Vater noch lebte. Oder etwa nicht?

      Kjellrun runzelte die Stirn. Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt. Die Mutter war aus einem anderen Dorf hergezogen, weil dort alles sie an den Mann erinnerte, der von einem mächtigen, wilden Bären getötet worden war. Damals war sie mit Kjellrun schwanger gewesen. Man hatte Ingvild in Hjolmfort aufgenommen und mitversorgt. Kjellrun trug noch heute an der Schuld ab.

      Denn das war das Gesetz des Dorfes Hjolmfort im Reich von Wuldor, dem Gott der eisigen Kälte und des ewigen Winters. Wenn man die Hilfe der anderen brauchte, um zu überleben, so musste man zurückgeben, was man empfangen hatte, sobald man die Kraft dafür fand.

      Ingvild hatte nie jagen gelernt. Sie konnte nichts zurückgeben. Es war ein Wunder, wie sie so alt hatte werden können, ohne auch nur ein einziges Mal auf die Jagd gegangen zu sein.

      Kaum war Kjellrun fünf Jahre alt, lernte sie Schlingen legen. Sie huschte den Erwachsenen hinterher, um sie heimlich zu beobachten und alles begierig aufzusaugen, damit sie es später ausprobieren konnte. Von der Mutter lernte sie nichts über die Jagd. Sie brachte ihr nur nähen und kochen bei und erzählte ihr etwas über die Pflanzen, die sie in Pflanzschalen züchtete. Doch die Pflanzen schenkten nicht genug Energie, um die Kälte überstehen zu können.

      Alles, was Kjellrun über die Jagd wusste, hatte sie von den größeren Männern und Frauen gelernt. Auch das Schnitzen von Pfeilen, das Biegen eines Bogens, selbst die Herstellung der kostbaren Wurfpfeile hatte sie erlernt, indem sie um die Großen herumgeschlichen war und zuschaute. Da ihre Mutter nicht erlaubte, dass Waffen im Haus waren, konnte Kjellrun sich keinen Bogen machen. Doch Wurfpfeile und eine kleine Schleuder versteckte sie an ihrem Körper und nahm sie immer mit sich, wenn sie sich zum Schlafen zurückzog. In ihren Schlingen, die sie im Wald auslegte, fand sie ab und zu Hasen. Manchmal hatte aber auch ein Fuchs die Beute schon für sich beansprucht, was dann wieder weniger Fleisch für sie und ihre Mutter bedeutete.

      Viele Gedanken schwirrten in Kjellruns Kopf herum in dieser Nacht. Denn es war die Nacht des Abschieds. Morgen früh, wenn der erste Tagesschein die Schatten vertrieb, würde sie aufbrechen. Auf keinen Fall wäre sie mehr hier, wenn Thore vorsprach. Sollte er doch ein anderes, williges Mädchen mit sich zur Jagd nehmen.

      Was aber sehr schwer auf Kjellruns Seele lastete, war ihre arme, alte Mutter. Wer würde sich um sie kümmern, wenn sie ging? Thore hatte