Dina Sander

Eisjungfer


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      Am ganzen Körper zitternd erwartete sie den Todesbiss. Um es zu beschleunigen, drehte sie ihren Oberkörper und legte den Kopf in den Nacken. Vereinzelte Tränen rannen die Augenwinkel hinunter, während sie ihre Kehle präsentierte. In ihren Ohren rauschte es, Schweiß bildete sich an ihrem Haaransatz. Bald war es vorbei. Der Atem des wilden Tieres erschien ihr unglaublich warm an ihrem kalten Hals, fast schon wie eine Liebkosung. Beiß endlich zu! Sie konnte die Augen nicht öffnen, wollte nicht diese Augen sehen, die ihren eigenen so unglaublich ähnlich waren. Silbergrau und nicht orange.

      Kapitel 5

       KJELLRUN

       Fiiiiiiii ...

      Ein durchdringender, greller Pfiff ertönte.

      Ohne es zu wollen, zuckten Kjellruns Hände hoch an ihre Ohren. Auch wenn das Blut wild in ihnen rauschte, dieser Pfiff durchdrang alles. So fest sie konnte, presste sie die Hände an die kalten Ohrmuscheln, spürte die Feuchtigkeit der Tränen, die hinuntergeronnen waren.

      Wo blieb der tödliche Biss? Wieso fühlte sie noch immer keine spitzen, scharfen Zähne an ihrer Kehle? Sollte sie es wagen?

      Langsam öffnete Kjellrun ihr linkes Auge. Dort müsste sie jetzt eigentlich die schwarze, vor Feuchtigkeit glänzende Nase des gefährlichen Tieres sehen. Oder weiße, krumme Zähne. Aber nichts, dort war absolut nichts.

       Fiiiiiiii ...

      Erneut drang der schreckliche hohe Ton an ihre Ohren. Nicht einmal ihre Hände konnten das schmerzhafte Geräusch fernhalten. Kjellrun senkte den Kopf und öffnete nun auch das andere Auge. Blinzelnd versuchte sie, in der dämmrigen Umgebung etwas zu erkennen. Aber da war nichts. Kein Wolf, keine orangenen Augen, einfach ... nichts!

      Ganz vorsichtig nahm sie die Hände von ihren Ohren und richtete sich etwas auf. Überaus langsam drehte sie sich, um zur Stelle schauen zu können, von der Silberauge gekommen war. Schimmerte nicht etwas schwarz in der Dunkelheit der Bäume? Eine unnatürlich intensive Schwärze? Ja, da war etwas oder jemand. Sie konnte es sehen. Ganz bestimmt.

      Kjellrun atmete schneller, schob den Oberkörper in die Richtung, als ob sie dadurch besser sehen könnte. Aber es blieb dunkel und schwarz. Einfach nur eine tiefe, unbekannte Schwärze. Sie schluckte nervös und überlegte, ob sie dorthin gehen sollte. Wenn es ein Lebewesen war, würde es flüchten oder angreifen. Wenn es eine Traumgestalt ihrer Angst war, dann würde sie sich auflösen. Nur ... wollte sie es riskieren, von einem schwarzen Untier angegriffen zu werden?

      Noch ehe sie eine Entscheidung treffen konnte, ertönte ein drittes Mal dieser schreckliche Pfiff. Er kam eindeutig aus der Richtung der Schwärze! Mit riesig aufgerissenen Augen und vor Staunen weit geöffnetem Mund beobachtete Kjellrun, wie Dutzende orangener Feuerpunkte auf die Dunkelheit zueilten. Als die leuchtenden Augen ganz nah bei ihr waren, breitete sich die Dunkelheit aus. Ein Geräusch wie von einem wehenden Wollumhang, der mit Schwung herumgewirbelt wurde, drang an Kjellruns Ohren. Einige der Feuerpunkte verschwanden hinter der Schwärze.

      Dicht an den Stamm zu ihrer linken Seite gepresst, richtete sich Kjellrun ganz langsam auf. Auf keinen Fall wollte sie von dem, was da in der Ferne war, bemerkt werden. Zitternd blinzelte sie die letzten feuchten Stellen aus ihren Augen und versuchte die Schwärze genauer zu betrachten. War das ein Tier? Oder sah so Wuldor aus? Sie schlug eine Hand vor den Mund, um den Schrei zu ersticken, der hinausdringen wollte. Die Angst wurde wieder übermächtig in ihr. Wenn das da vorne Wuldor war, dann wollte er wohl nicht ihren Tod, aber ganz sicher würde er ihr auch nicht wohlgesonnen sein. Es gab nicht eine gute Geschichte über ihn. Zumindest nicht in den Erzählungen ihrer Mutter. Panik schlich sich in jede Faser ihres Körpers. Warum hatte der Wolf sie nicht schnell mit einem kräftigen Biss getötet? Die Angst vor dem, was mit ihr noch alles passieren konnte, war entsetzlich. Wieder zitterte sie am ganzen Körper. Sie hörte sogar das Klappern ihrer eigenen Zähne, so fest hielt sie die Furcht gepackt! Dennoch konnte sie sich nicht abwenden von dem Geschehen dort vor ihren Augen.

      Seltsame Laute drangen an Kjellruns Ohren. Das Geräusch passte nicht in den düsteren Wald. Es klang wie ein Lied in einer unbekannten Sprache. Ein fast schon liebkosender Singsang, melodisch, einschmeichelnd. Erst war er leise, nahm dann an Stärke und Kraft zu und hüllte sie ein. Sofort fühlte sie sich geborgen und ein warmer Schauer fuhr durch ihren Körper. Ohne es zu wollen, musste Kjellrun lächeln. Ihre Angst verflog und sie ließ die Hand vom Mund sinken. Eine tiefe Sehnsucht erwachte in ihr. Tief in ihrem Bauch breitete sich ein Kribbeln aus. Da war ein Verlangen nach etwas, das sie nicht benennen konnte. Es wurde immer größer und stärker, floss durch ihre Adern und ließ ihr Herz heftiger pochen.

       Vertrar farir fioninga og docht.

       Nu er timi floru.

       Komte hem til min, komte hem.

      Sie verstand nicht die Worte. Doch der Zauber hielt sie gefangen. Immer mehr Wölfe näherten sich der Schwärze, setzten sich, hoben ihre Schnauzen gen Himmel und fingen an in das Lied einzustimmen mit ihrem heulenden Ruf. Kjellrun öffnete ihren Mund, wie von selbst glitten die fremden Worte aus ihrem Inneren hervor: „Vetrar farir fioninga og docht.“

      Sie merkte nicht, wie sie ihren Fuß hob und den ersten Schritt auf die Schwärze zuging. In ihrem Kopf fühlte sich alles leicht und beschwingt an. Alles in ihr sehnte sich danach, mitzusingen, inmitten der Wölfe zu stehen und in der Wärme des Liedes zu versinken.

      „Kjellrun!“ Der dunkle, harte Ton passte so gar nicht hierher. Sie schüttelte unwillig den Kopf. „Kjellrun!“

      Der magische Gesang verstummte abrupt. Die Schwärze fiel in sich zusammen und Dutzende Feuerpunkte starrten sie an. Dann hörte sie ein Zischen, Jaulen und danach nur noch Getrappel von vielen Pfoten auf trockenem Waldboden. Mit der Schwärze verschwanden alle orangenen Lichter, das sonderbare Gefühl in ihrem Körper wich einer tiefen Leere. Fast fühlte es sich einsam in ihr an. Es schien Kjellrun, als erwachte sie aus einem seltsamen Schlaf.

      „Kjellrun, ich weiß, dass du hier sein musst!“

      Sie lauschte angestrengt. War das etwas Thore? Hatte er sie eingeholt und vor einem tödlichen Schicksal bewahrt? Denn ganz sicherlich war diese seltsame Gestalt mit ihrem noch seltsameren Gesang von dem Gott der eisigen Kälte und des ewigen Winters geschickt worden. Niemand sonst vermochte allein durch Gesang Wölfe oder Menschen zu bezaubern!

      „Kjellrun, wenn du nicht sofort antwortest, dann hetze ich dir doch noch Thore hinterher.“

      „Sjard?“ Sie flüsterte es mehr, als dass sie es sprach. Denn es schien ihr unmöglich, dass ausgerechnet er den Weg durch den gefährlichen Svartskog gewagt hatte. Da hätte er doch gleich mit ihr gehen können. Oder ...? „Hat dich etwa meine Mutter geschickt? Dann kannst du gleich wieder umkehren“, rief sie laut und stemmte die Arme in die Seiten, obwohl er das gar nicht sehen konnte. „Ich werde nach Ulvershom gehen. Auf gar keinen Fall kehre ich nach Hjolmfort zurück.“

      Sie hörte, wie sich Schritte näherten. Es knackte laut und ganz untypisch für einen Jäger. Sjard musste sich wohl sehr sicher fühlen.

      „Dummes Mädchen“, erhielt sie zur Antwort. „Ich bin doch nicht im Auftrag deiner Mutter hier. Die hat Thore losgeschickt. Oder besser, er hat ihr gesagt, dass er dein Suchspiel annimmt und dich ihr wiederbringen wird.“

      „Suchspiel?“, rief Kjellrun aufgebracht. „Suchspiel?“

      „Ja, genau.“ Die männliche Stimme war nun nah bei ihr. Eigentlich so nah, dass sie ihn sehen müsste. Aber sie konnte ihn noch immer nicht entdecken. Stimmte etwas mit ihren Augen nicht mehr? Allmählich begann sie sich Sorgen zu machen.

      „Wo bist du?“ Nun war sie es, die nach ihm suchte und dabei die Stirn runzelte.

      „Wenn du mal hinter deinem Baumstamm hervorkommen würdest, dann müsstest du nicht fragen“, erwiderte Sjard und war nun so dicht bei ihr, dass sie erschrocken zusammenzuckte. Er blickte um den Stamm herum und schüttelte seinen