Dina Sander

Eisjungfer


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rieb sich die Augen und gähnte. „Nein, sollte Thore seine Freunde im Wald umhergeschickt haben, um nach dir zu suchen, können sie es riechen.“

      „Warum sollte er das tun?“

      „Du bist seine Beute. Zudem ein Mädchen.“ Als er Kjellruns ärgerlichen Blick sah, verbesserte er sich: „Eine Frau. Du bist eine Frau, die allein im Wald ist. Er kann keine Spuren von dir entdecken. So wird er nicht wirklich glauben, dass du nach Ulvershom gegangen bist. Auch wenn er dorthin will, muss er vorsichtshalber im Wald nach dir suchen.“ Sjard nahm einen Ast und schob Schnee zu ihrer kleinen Feuerkuhle. „Vielleicht sucht er selbst nach dir, vielleicht schickt er seine Freunde. Auf jeden Fall wird er im westlichen Wald alles absuchen, statt einfach ins Dorf zu spazieren und dort nach dir zu fragen.“

      „Aber wenn er ins Dorf geht und fragt, können sie ihm helfen“, wandte Kjellrun ein.

      Sjard betrachtete sie nachdenklich. Sein Blick war so ernst, dass sie sich unwohl wegdrehte. Schließlich seufzte er und schob weiteren Schnee in die Feuerkuhle, bis alles bedeckt war. Es kam ihr so vor, als ob mit dem Erlöschen der letzten Glut, auch der letzte Rest an Wärme gewichen wäre. Sie fröstelte. Dieses Mal nicht nur wegen Sjards ernstem Blick.

      „Kjellrun, mir scheint, deine Mutter hat dir nicht viel von ihrer Heimat erzählt. Vielleicht sind es nur Gerüchte und Sagen, die wir anderen Kinder so gehört haben“, griff er ihren Gedanken auf, „aber Ulvershom wird nicht ohne Grund das Dorf der Wölfe genannt.“ Er warf den Stock weit weg, mit dem er den Schnee zum Feuer geschoben hatte, und schaute sie danach an. „Rund um das Dorf wimmelt es von Wölfen. Man sagt, dass die Dörfler die wilden Tiere als Haustiere halten. Wen sie nicht kennen, den zerfleischen die Biester. Ob Thore einfach so nach Ulvershom spaziert, ist also sehr ungewiss.“

      „Echte Wölfe?“ Kjellrun riss ihre Augen weit auf und starrte Sjard ungläubig an. „Dort soll es wilde Wölfe geben? Und du willst mich dorthin begleiten?“

      „Von wollen kann keine Rede sein“, knurrte er, stand auf und streckte sich. „Wäre ich nicht im Wald über dich gestolpert, würde ich jetzt gemütlich zuhause im warmen Zimmer liegen und keine Gedanken an wilde Tiere verschwenden.“

      Langsam stand sie ebenfalls auf. „Danke“, sagte sie. Mehr nicht. Aber was sollte sie auch viel reden? Er war bereit, sein Leben für sie zu geben, auch wenn er sie nicht entjungfern wollte und nicht einmal für ihre Mutter sorgen. Doch hier und jetzt war er da und sorgte für sie, wie es ein echter Gefährte auch tat.

      Sie wollte sich schon nach einem Baum für die Nacht umsehen, als ihr noch etwas einfiel. „Du, Sjard, was machen wir denn, wenn es da wirklich wilde Wölfe gibt?“

      „Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist. Vielleicht hat Thore auch alle erlegt, bis wir eintreffen. Oder zumindest verjagt“, fügte er rasch hinzu, als er den erschreckten Blick von Kjellrun sah.

      Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken, dass ihretwegen ein ganzes Rudel Wölfe gestorben sein könnte. Was konnten denn die armen Tiere dafür, dass sie nicht Thores Frau werden wollte? Das war doch keine Jägerehre, wenn unschuldige Tiere abgeschlachtet wurden!

      „Schlaf gut, Sjard“, sagte sie. „Ich nehme diesen Baum hier.“

      „Schlaf gut, Kjellrun.“

      Sie sah, wie er zwei Bäume weiter seinen eigenen Schlafbaum erklomm. Es war gar nicht so leicht, den knorrigen, rauen Stamm hochzuklettern. Aber der Gedanke, am Boden von Wölfen oder Bären zerfleischt zu werden, half ihr ungemein. Sie kletterte so hoch, bis sie glaubte, dass kein Bär sie sehen oder riechen würde. Wenn doch, dann würde sie ins Reich der Seelen einkehren, während ihr Körper ein schmackhaftes Mahl wäre.

      Kjellrun schüttelte den Kopf. An so etwas wollte sie jetzt nicht denken.

      „Dorf der Wölfe“, murmelte sie. „Ulvershom. Warum habe ich nie darüber nachgedacht, woher unsere Dörfer ihre Namen haben? Ob sie aus derselben Sprache stammen wie das Lied der schwarzen Gestalt?“

      Sie atmete tief ein und aus, um ihre Gedanken zur Ruhe zu bringen. Dann schmiegte sie sich dicht an den Stamm, schlang ihre Arme und Beine um ihn, so weit sie konnte, und lehnte den Kopf an die raue Rinde. Es schien ihr, als ob sie das Leben in ihm hören konnte. Ein leiser Klang, dumpf und gleichmäßig, fast wie ein sehr langsamer Herzschlag. War das denn möglich? Hatten Bäume ein Herz? Sie schloss die Augen und grub die Nase dichter an die kleinen Kerben. Er roch so wunderbar. Alt und dennoch frisch, ein wenig moosig und fruchtig. Fruchtig. Wie konnte ein Baum fruchtig riechen, obwohl keiner je geblüht hatte und Frucht getragen, zumindest nicht seit sie denken konnte?

      Langsam drifteten ihre Gedanken ab. Wärme floss in sie. Arme und Beine wurden so schwer, unendlich schwer. Sie lösten sich von der Umklammerung. Doch ihr Oberkörper wurde vom Stamm gehalten und ihr Kopf schien an der Rinde zu kleben, so dass in der Dunkelheit nicht zu erkennen war, wo sie aufhörte und der Baumstamm anfing. Der Schlaf umfing sie wie eine warme Decke und nahm sie mit ins Reich der Träume.

      „Komm zu mir“, säuselte eine Stimme, hell und klingend, „komm zu mir, reine Seele.“

      Es war eine Kinderstimme, die da an ihr Ohr drang. Bestimmt wollte das Mädchen mit ihr spielen. Sie sollte zu ihm gehen und mitspielen. Es war viel zu lange her, seit sie mit anderen Kindern gespielt hatte. Schlafen konnte sie auch später.

      „Komm, ich finde dich.“

      Spielten sie Verstecken? Dann durfte sie sich natürlich nicht bewegen. Sie musste mit dem Baum verschmelzen. Eins werden mit dem Stamm, unsichtbar für das Mädchen. Sie wollte gewinnen, sie wollte immer gewinnen, denn darum ging es doch, oder? Nur wer gewann, durfte später alles entscheiden. Der Verlierer musste sich beugen und gehorchen. Sie wollte nicht gehorchen.

      „Komm, kleine Seele, komm zu mir. Ich brauche dich.“

      Die Stimme klang so verlockend. So frisch und verspielt. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, dem Mädchen zu gehorchen, vielleicht machte es sogar Spaß. Sie musste sich nur bewegen, oder ein Geräusch machen wie Husten, dann würde das Mädchen sie finden und ihr erklären, wie das Spiel weiter ging.

      „Oh Eisfunken!“ Nun klang die Stimme nicht mehr so verlockend, eher klirrend kalt und verärgert. „Wo steckt sie denn nur?“

      Kjellrun spürte einen Schauder über ihren Rücken laufen. Sie wollte ihre Augen öffnen, aber es schien unmöglich. Sie konnte sich auch nicht bewegen. Es dauerte eine Weile, ehe sie merkte, dass sie mit dem Baum verschmolzen war. Sie war in dem Baum. Oder vielmehr ... sie war der Baum! Da Bäume keine Augen hatten, konnte sie auch keine öffnen. Aber wenn sie keine Augen hatte, dann hatte sie auch keinen Rücken, oder? Wieso fühlte sie sich dann so unwohl bei dem Klang der klirrenden Stimme, dass sie glaubte, ihr würde ein Schauder den Rücken runterlaufen?

      Ein Fuß stampfte auf. Wie unsinnig das war. Als ob ein stampfender Fuß etwas verändern würde. Das Mädchen musste noch sehr jung sein, wenn es das glaubte. Außerdem schien es eine schlechte Verliererin zu sein. Sonst würde es nicht nach dieser kurzen Suche schon zornig sein, weil sie Kjellrun nicht fand.

      Oder suchte sie vielleicht schon länger? Kjellrun hätte sich gern am Kopf gekratzt, während sie darüber nachdachte. Aber sie hatte weder einen Kopf noch Arme oder Finger. Mit den Ästen über den Stamm kratzen, das ging nicht und wenn es ginge, wäre es noch alberner, als mit dem Fuß aufzustampfen.

      Jetzt würde Kjellrun am liebsten stöhnen, weil sie so sonderbare Gedanken hatte. Waren es wirklich ihre Gedanken? Vielleicht vermischten sich ihre Gedanken mit denen vom Baum? Konnten Bäume überhaupt denken?

      „Sie muss hier irgendwo sein.“ Wieder vernahm sie die Kinderstimme, ein wenig übellaunig und verwirrt. „Ich habe sie doch gerochen.“ Erneut ein stampfender Fuß. Danach Stille. Nur einen kleinen Moment. Oder doch etwas länger? Irgendwie hatte Kjellrun kein richtiges Zeitgefühl. Dafür hörte sie einen Ton, der ihr irgendwie bekannt vorkam.

      Uuuhhhhh.

      Woher kannte sie ihn nur? Moment, das war die falsche Frage. Wenn sie keine Augen hatte