Verena Dittrich

Auf jeden Fall nichts mit Menschen


Скачать книгу

So eine Unverschämtheit!!!

      In der folgenden Nacht plagte mich zur Strafe ein bitterlicher Alptraum. Ich träumte, dass ich sauer, ja richtiggehend eingeschnappt, zu dem Event gehe, jedoch unbekleidet, nur mit einem Blauen Turnbeutel in der Hand. Die Kollegen sehen mich aus der Ferne. Alle schauen auf mich. Ich. Nackig. Meine Finger um den Dederon-Henkel gekrallt. Trotzig gehe ich schnurstracks weiter auf sie zu. Jeder staunt! Sie machen "aaahhh" und "oooooh" und laufen mir entgegen. Und auf einmal haben alle nur Augen für: MEINEN BLAUEN TURNBEUTEL!

      "Toll!", rufen sie, "wo haste bloß dieses heiße Ost-Produkt her? Grandios! Der ist ja einfach unglaublich!" Keine Sau nimmt von meiner Nacktheit Notiz, es war sehr kafkaesk! Bevor ich sagen konnte: Aber, seht ihr denn nicht, dass ich nichts anhabe, erwachte ich. Schweißgebadet. Die ganzen Laken waren klamm. Von meinem Scheiß-Schweiß! Was ich aus der Sache gelernt habe? Dass ich gar nicht so wichtig bin, wie ich immer denke und dass mir Freud nach wie vor egal bleibt, aber dass ich wirklich den blauen Turnbeutel nicht in die Altkleidersammlung hätte pfeffern sollen. Tja. Das war ein Fehler!

      Die unsichtbare Linie

Bild 103460 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      Wie schnell das gehen kann, das Erwachsenwerden. Mit einem Male fühlt man es – ganz tief in sich drin – und man sagt sich dann, aha, so ist das, wenn man erwachsen ist, so muss das also sein. Man drückt Stempelkarten und macht Lohnsteuerjahreserklärungen, heiratet und lässt sich scheiden. Man schafft sich Häuser und Hunde an, Kinder und Katzen. Man wird verwundbar. Verpasst Chancen. Trifft die falschen Entscheidungen oder hört auf, jemanden zu lieben. Man trinkt und raucht und lässt es wieder, eine Zeitlang geht man mittwochs in die Sauna, freitags zum Skat und sonntags zur Beichte. Viele von diesen Erwachsenen-Dingen macht man, ohne genauer darüber nachzudenken. Weil sie normal sind und dazugehören und eben oft auch einfach so sein müssen.

      Auf meinem Weg zum Erwachsenwerden gab es keine Linie, die ich bewusst überschritten habe, keinen Moment, in dem mir klar war, so, du bist nun ein erwachsener Mensch, du bist jetzt drin in der Erwachsenenwelt, du musst jetzt darin zurechtkommen und dich an die anderen Erwachsenen gewöhnen, denn du bist jetzt einer von ihnen. Press die Lippen zusammen, wenn dir was nicht passt oder schweige so laut, dass es jeder hören kann. Gleichmäßig atmen geht nur noch am Wochenende.

      Nie habe ich darüber nachgedacht, wann genau ich erwachsen geworden bin. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich nie erwachsen gefühlt habe. Oder schon als Kind ein bisschen erwachsen war. Aber jetzt, wo ich älter werde, frage ich mich von Zeit zu Zeit, warum ich sie auf einmal sehe – diese Linie, die ich früher nie wahrgenommen habe, von der ich behaupte, dass sie damals nicht da war oder zumindest unsichtbar. Auch jetzt ist sie oft nur ganz schwach zu sehen, irgendwo ganz weit hinten, unnahbar, unerreichbar. Und sie entfernt sich, wenn ich auf sie zugehe, noch entfernt sie sich.

      Doch irgendwann begann ich, in meiner eigenen Erwachsenenwelt über Dinge zu stolpern, die auch anderen Erwachsenen zu schaffen machen, Dinge, die jeder für sich selbst erledigen muss, Dinge, über die man ungern spricht, Dinge die wehtun und die einen hässlich aussehen lassen, müde und alt. Und all diese Dinge haben einen Namen, den man früher nicht kannte und heute oft nicht wissen will. Unheimlich scheinen sie, traurig und knöchern, obwohl sie dazu gehören. Ihre Bedeutung wissen wir nur, weil wir müssen, nicht weil wir wollen. Patientenverfügung, Notar, Vorsorgevollmacht, Alzheimer, Stent, Herzkatheter, Beatmungsgerät, Bypass, Psychose, Depression, Embolie, Infarkt, Grabstätte.

      Die Angst vor diesen Lebensdingen, so glaube ich, lässt mich die Linie jetzt bewusster wahrnehmen als damals, während meiner unbeschwerten Jugend. Tick, tack, tick, tack… Ich bin erwachsen geworden, jetzt werde ich alt. Wenn ich Glück habe. Ich will‘s nicht verdrängen, ich will später nicht im schmierigen Lichtkegel der Wohnzimmerfunzel sitzen, mit den verhornten Fingerspitzen über die vergilbten Fotos von früher streicheln so als würde die Vergangenheit dadurch zur Gegenwart, und mich dabei wehmütig heiser heulen.

      Ich will mit aller Kraft meinen Sandsack boxen, solange bis er sich nicht mehr bewegt, ich will jetzt lernen zu akzeptieren, dass ich alt werde. Dass ich ohne zu husten durchatmen und mit Freude sagen kann: Ich bin alt. Ich hab es lange, lange kommen sehen. Ich bin ein alter Mensch mit einem alten Herzen. Aber ich bin immer noch ein verdammt guter Boxer. Und ich kann jetzt ruhig öfter müde sein, das ist kein Problem mehr, die Träume werden die gleichen bleiben.

      …Und das dahinten, das ist meine Linie. Ich hab ein bisschen Angst, wenn ich die Augen schließe, aber auch Glück, dass ich sie sehen kann. Wie du, Vater.

      Ich+Glamour = Glamour für arme?

Bild 103459 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      Ja, ja, ja! Es geht jetzt um Klamotten! Sie denken nun vermutlich: was kommt die uns denn mit so einem oberflächlichen Thema? Wobei ich mich frage, ob es wirklich so oberflächlich ist. Denn sagt es nicht Einiges über unser Inneres aus, wie wir mit unserem Äußeren zurechtkommen? Ich frage mich nämlich oft, ob ich mich eigentlich wirklich schön finde? Es gibt ja so Tage, da fühlt man sich grandios und fabelhaft. Da schaue ich in meinen Zahnpasta bespritzten, halb blinden Spiegel und denke mir: "Ja, ist okay, kannst dich ruhigen Gewissens auf die Straße trauen!"

      Dann hebe ich mein Shirt hoch und versuche ein paar nicht vorhandene Bauchmuskeln zu erkennen. Ich spanne den Bauch an, aber da will einfach nichts zu sehen sein, nicht der kleinste, mickrigste Bauchmuskel. Ich finde das von meinem Bauch mir gegenüber ziemlich dreist und überlege schon wie ich ihn die kommenden Tage für diese Unverschämtheit bestrafen könnte. Aber so, dass es ihm richtig zu schaffen macht und er sich verpisst.

      Wünsche können ja bekanntlich Berge versetzen, nur leider können sie keine Fettpölsterchen schmelzen lassen. Erst recht keine Orangenhaut. Und dann, wenn das Licht gnädig fällt, umschmeichelt es immer so schön die kleinen fiesen Dellen an den Schenkeln und am Hintern und ich jubele, weil es so scheint, als hätte sich meine verhasste Freundin, Genossin Orange, mal einen Tag frei genommen. Auch meine Haare fallen an diesen Tagen wunderbar und mein Teint strahlt heller als Vaters Höhensonne. Ich bin jedes Mal richtig von mir selber geblendet. Solche Tage sind toll.

      Ich liebe auch diese Tage, an denen ich das perfekte Outfit spazieren trage. Also wenn man sich zum Beispiel was hübsches Neues zum Anziehen gekauft hat und das dann das erste Mal trägt, das ist doch jedes Mal ein grandioses Gefühl. Man fühlt sich wie neu geboren. Und am allerliebsten würde man, ich meine natürlich Frau, sofort nochmal in den Laden stürzen und das Outfit ein zweites Mal kaufen. Zur Sicherheit, falls mit Outfit Eins irgendwas Unvorhersehbares passiert. Meine Devise lautet: das Beste sollte man doppelt und dreifach haben. Ziemlich dekadent, finden Sie nicht auch? Vielleicht gibt’s das ja morgen schon nicht mehr, denke ich dann in meinem Wahn, alles raffen zu wollen, vielleicht ist es ja morgen schon ausverkauft, vielleicht gibt’s ja morgen überhaupt keine Läden mehr, im ganzen Land nicht. Alle zu! Wirtschaftskrise, Inflation, Insolvenz. Da muss man natürlich drauf vorbereitet sein! Und dann eben für den Notfall auch gut gekleidet.

      Höchst interessant finde ich aber die Metamorphose eines jeden Lieblings-Outfits. Es verändert sich nämlich ziemlich rasant. Und zwar gnadenlos. Denn wenn man exakt dasselbe Outfit ein paar Wochen später erneut anzieht, ist die Wirkung: Na? Genau! Verpufft! Und zwar völlig. Als wäre die Prise Magie dieser Klamotten-Kombination, in der ich mich noch ein paar Tage zuvor wie die Herzogin von Rummelsburg gefühlt habe, mit dem letzten Schleudergang gnadenlos weggespült worden.

      Also, was lernen wir daraus? A) Genießen wir diesen Zauber des ersten Klamotten-Mals. Und B) Wir brauchen ständig neue Klamotten! Denn möglicherweise ist genau das der Grund, warum wir Frauen immer vor unseren - aus allen Nähten platzenden - Kleiderschränken stehen und jammern, wir hätten nichts zum Anziehen. Weil uns der Kick fehlt! Und den haben wir nun mal nur mit neuen Klamotten. Na ja, zumindest ein Teil von mir. Kein großer, nur so schlappe neunzig Prozent. Da können mich die alten Klamotten im Schrank noch so sehr anlächeln, keine Chance. Und deshalb