Peter Schmidt

Der Mädchenfänger


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und den etwas zu weiten Hosen war Quant schon fast ans Herz gewachsen, aber wenigstens versuchte er ihm nicht zu erklären, wer kürzlich in der Nachbarschaft überfahren worden war. Quant war gerade dabei, es sich mit seinen Zeitschriften im Liegesessel bequem zu machen (das würde hoffentlich für den langweiligen Rest des Nachmittags reichen), als es zum zweiten Mal läutete. Vom Salon im Anbau durch das Haus und über die Treppen war es ein ziemlich langes Stück, deshalb schob er erst einmal den Vorhang beiseite und sah in den Garten hinunter.

      An der Treppe stand ein seltsames weibliches Wesen in dunkelblauem Kostüm mit der Mütze der Heilsarmee. Die Sammelbüchse und die Informationshefte in ihrer Hand hätten ihn normalerweise davon abgehalten, überhaupt die Tür zu öffnen. Aber die junge Frau erinnerte ihn verblüffend an seine verstorbene Schwester …

      Sie war sehr groß und schlank und sah irgendwie leidend oder verhärmt aus. Wie jemand, der tapfer gegen die Widrigkeiten des Schicksals ankämpfte, das allen so übel mitspielte, und bereit war, sein Leben in den Dienst des anderen zu stellen. Es gab wohl keinen Menschen auf der Welt, außer vielleicht seiner Mutter, der ihm ein ähnlich großes Rätsel gewesen war wie seine Schwester. Und die junge Frau an der Haustür hatte sogar die gleiche Kopfhaltung, scheinbar verständnisvoll zur Seite geneigt, als habe sie etwas nicht richtig verstanden – eine Antwort, die sie ihm abverlangte – als sei der ganze verdammte Weiberhaushalt seit dem Tode seines Vaters plötzlich wiedererstanden.

      Je länger er sie betrachtete, desto stärker wurde sein Interesse an ihr. Wie konnte jemand, der so gut aussah wie sie, sich einer so lächerlichen Beschäftigung widmen, bei der nie mehr heraussprang, als ein paar sabbernde Obdachlose mit Suppe und Schokoladenprinten zu bewirten und ihnen von Gottes unendlicher Gnade zu erzählen? Er zog seinen Morgenmantel aus schwarzem Satin über, den er kürzlich in London gekauft hatte, weil ihn das auf Frauen interessanter wirken ließ, und ging hinunter. Als er öffnete, war sie schon ein paar Schritte entfernt und wandte sich mit der Sammelbüchse nach ihm um.

      "Ich würde gern etwas in Ihre Büchse werfen", sagte er. "Kommen Sie doch herein, ja?"

      "Danke, aber wenn Sie nichts dagegen haben, warte ich lieber an der Tür." Ihre Stimme hatte einen leicht skandinavischen Akzent, er tippte auf Dänin. Das passte auch zu ihren nordischen Gesichtszügen.

      "Drinnen ist es gemütlicher …"

      Sie zögerte und senkte verlegen die Sammelbüchse. "Wir machen eigentlich keine Hausbesuche."

      "Auch nicht, wenn ich gern etwas über Ihre Organisation erfahren würde?"

      "Was Sie wissen müssen, steht alles in diesen Heften." Dabei hielt sie ihm eines ihrer Magazine hin, auf dessen Titelseite ein hungerndes Kind in der Dritten Welt abgebildet war. "Sie können auch dienstags und samstags zu unseren Informationsabenden kommen."

      "Soll das etwa heißen, Sie sind gar nicht kompetent, um mir eine Auskunft zu geben?"

      "Doch, schon …"

      "Ist es, weil ich ein Mann bin? Befürchten Sie, dass ich Sie in meinem Haus vergewaltigen oder ihnen unzüchtige Filme vorführen will?"

      "Nein, ich …"

      "Also bitte", sagte er und trat beiseite, um die Haustür offen zu halten und sie durchzulassen.

      Während sie an ihm vorbeiging, drehte er unauffällig den Schlüssel im Schloss und ließ ihn blitzschnell in ihrer Manteltasche verschwinden.

      Er positionierte sie so im Vorraum, wo das Sofa und ein paar Sessel um einen kleinen Rauchtisch standen, dass er ihr Gesicht bei Tageslicht sehen konnte. Sie saß kerzengerade da, die Schultern leicht hochgezogen und ihre Hände ineinandergehakt, dass man glauben konnte, die Wände, Decken und Möbel seien mit ansteckenden Krankheitskeimen verseucht. Ihr hageres Kinn sprang ein wenig zu weit vor, als recke es sich voller Trotz in die Welt.

      "Also gut – darf ich?" Quant griff in die Tasche seines Morgenmantels und warf ein paar Münzen in den Schlitz der Sammelbüchse.

      "Vielen Dank. Sie sind sehr großzügig."

      "Davon kann man sich nicht einmal eine Zeitung kaufen."

      "Jede Münze zählt. Viele Münzen ergeben eine warme Mahlzeit."

      "Da haben Sie natürlich recht. Darf ich nach Ihrem Namen fragen?"

      "Ortrud."

      "Also gut, Ortrud, etwas zu trinken? Vielleicht griechischen Aprikosenlikör? Ich habe ihn gerade als Originalabfüllung aus Piräus bezogen. Ein Freund von mir betreibt dort einen kleinen Spirituosenhandel."

      "O nein, ich trinke niemals Alkohol."

      "Hab' ich mir schon gedacht", sagte er und drehte nachdenklich den schweren silbernen Ring an seinem Finger. "Ihr frommen Betschwestern wisst wohl noch gar nicht, dass der liebe Gott dort oben über den Wolken ganz bewusst zwischen Reinigungs- und Trinkalkohol unterschieden hat?"

      "Bitte, was meinen Sie?“, fragte sie vorgebeugt und sah ihn unsicher an.

      "Was steckt wirklich hinter Ihrer biederen Fassade, Ortrud? Eigentlich sind Sie doch ganz hübsch. Uns Kerlen sagt man ja nach, dass die meisten als Panther springen, wenn sie heiraten, und als Bettvorleger ankommen. Waren Sie schon mal wie ein wildes Raubtier in Ihrem Leben?"

      "Sie stellen mir Fragen, die ich kaum …"

      "Ach lassen wir das lieber. Wann haben Sie zum letzten Mal mit einem Mann geschlafen? Und träumen Sie manchmal davon? Gestehen Sie sich Ihre Gefühle ein, oder möchten Sie das alles lieber verdrängen? Finden Sie es unanständig, solche Gefühle zu haben? Was halten Sie von diesem neuen Typ emanzipierter Frauen, die über ihre Menstruation, über Kondome und die Besiedlung ihrer Vagina mit Hefepilzen reden, als handele es sich um die Konstruktion ihrer Waschmaschine?"

      Man sah, dass sie einen Moment lang aus der Fassung geriet. Ihre Nasenflügel waren leichenblass geworden, und ihre zusammengepressten Beine wirkten, als wollten sie mit den Unterarmen und geballten Fäusten eine Art Barriere bilden. Doch sie hatte sich überraschend schnell wieder gefangen.

      "Empfinden Sie etwas dabei, Frauen solche Fragen zu stellen?"

      "Ich denke, man empfindet immer etwas dabei. Selbst wenn es nur Langeweile ist."

      "Es macht Ihnen Vergnügen, oder? Sie sind wirklich zu bedauern. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Gott Ihnen mit solchen Gefühlen vielleicht eine schwere Prüfung auferlegen will? Die Würde der Frau bedeutet Ihnen nichts, es ist nur ein Wort, eine hohle Phrase, nicht wahr? Kommen Sie ins unseren Gesprächskreis, dort kann man über alles reden."

      Donnerwetter, dachte Quant. Sie kam regelrecht in Fahrt bei diesen Worten. Keine Spur mehr von leichenblasser Haut, ihr Gesicht war leicht gerötet wie das Angelas, wenn sie plötzlich im Mittelpunkt des Gesprächs stand. Er fand, es gab keine anregenderen Entdeckungsfahrten, als in die Seelen von Frauen einzudringen, sie zu Antworten zu provozieren und Gefühle hervorzurufen, die sie sich selbst vielleicht nicht eingestehen wollten. Fahrten über die Dschungelflüsse des brasilianischen Urwaldes waren passé. Die wirklichen Abenteuer fanden im Kopf statt.

      "Wäre es nicht Ihre Aufgabe als Soldat Gottes, das gleich an Ort und Stelle zu tun?“, fragte er. "Also keine Vertröstungen auf Gesprächskreise. Sie werden doch nicht fahnenflüchtig? Ich frage mich zum Beispiel, ob die Nerven Ihrer Vagina noch voll funktionsfähig sind. Ich meine, haben Sie keine Sorge, sie könnten mehr und mehr aus der Übung geraten bei Ihrem Lebenswandel? Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass Nerven genau wie Muskeln ständige Übung brauchen … Sie haben doch keinen Freund, oder? Und Sie sind auch nicht verheiratet, Ortrud, das sehe ich Ihren Händen an. Die Hände verheirateter Frauen sind selten so gepflegt, und das nicht nur wegen des Hausarbeit, sondern weil es ihnen an Motivation mangelt.

      Sie dagegen haben Ihre Hände zum Fetisch Ihrer Schönheit erhoben, weg, bloß weg von den schmutzigen Gedanken, wie Ihr Gesicht und Ihr Busen auf die Kerle wirken könnten, und lieber hin zu etwas, das man bequem den Blicken entziehen kann, indem man es einfach in die Tasche steckt …"

      "Ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen." Sie erhob sich, die