Walter Rupp

Wake up - Gedanken-Wecker


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Auch der, der seine Heimat nie verlassen oder nur wenige Bücher gelesen hat, kann einen weiten Horizont besitzen und sich Welt- und Menschenkenntnis angeeignet haben. Kant wurde ein weltberühmter Philosoph und Denker, obwohl er sein ganzes Leben nur in Königsberg verbrachte. Und Jesus von Nazareth, der weder die antiken Denker noch die Länder außerhalb Palästinas kannte, ist noch immer der Weisheitslehrer, der alle Weisheitslehrer überragt.

      Erfülltes Leben

      Unsere Zeit hat den Begriff 'Lebensqualität' erfunden, aber nicht beschrieben, was darunter zu verstehen ist. Viele verstehen darunter Wohlstand: das Angebot von Waren, Krankenbetten oder Kindergartenplätzen, Weiterbildung, Studienförderung, bezahlten Urlaub und soziale Sicherheit. Aber trotz Wohlstand und trotz einer hoch entwickelten Vergnügungsindustrie will es nicht gelingen, die Menschen unserer Zeit glücklicher zu machen.-

      Richtig leben kann eigentlich nur, wer begriffen hat, dass leben dürfen ein Geschenk ist und der größte Wert, den ein Mensch besitzen kann. "Jedes Leben" - notierte Adalbert Stifter in seinem Vermächtnis - "ist ein entzückend Wunderwerk, das nie war und nie mehr sein wird." Selbst wenn noch viele Milliarden Menschen geboren werden, jeder einzelne wird auch dann noch unverwechselbar und einmalig sein. Die Natur wiederholt sich nie. Jeder wird als Original in die Welt geschickt und mit den Eigenschaften ausgestattet, mit denen er seine Lebensgeschichte schreibt.

      Der Mensch ist schon durch sein Dasein reich. Hellmut Holt-

      haus ruft denen, die durch ihr Leben hetzen, spöttisch zu: "Lebt schneller, Zeitgenossen!" Er lästert über die, "die so schnell spazieren fahren..., die im Urlaub so viel mitnehmen: noch einen See, noch eine Stadt und noch eine schöne Aussicht..., aber die Kostbarkeiten nicht sehen, deren Anblick nichts kostet, Kinder, Wolken, Vögel, Apfelbäume... " Die Menschen unserer Zeit sollten darauf achten, dass sie ihr Leben nicht mit ihrem Lebensstandard verschlechtern, sondern verbessern.

      Erfüllung

      Wann darf man ein Leben gelungen nennen? Zenon von Kition, der Gründer der Stoa, rief nach dem Verlust seines einzigen Handelsschiffes aus: „Schicksal, du meinst es gut mit mir!“ und beschloss, Philosoph zu werden. Vincent van Gogh malte auch nach seiner Einlieferung in eine Heilanstalt Bilder von erstaunlicher Ausdruckskraft. Ludwig van Beethoven komponierte noch, nachdem er taub geworden war, bedeutende musikalische Werke. Und Papst Coelestin V. ordnete sich nach seinem Rücktritt vom päpstlichen Amt wieder in seine Mönchsgemeinschaft ein. Ein Leben glückt dann, wenn einer an Widerständen nicht zerbricht und es immer wieder wagt, neu anzufangen.

      Die Selbstverachtung und die Weltverneinung, die mancher Denker der Antike zeigte und mancher Zeitgenosse zeigt, sind für die Lebensbewältigung ein Hindernis. Man muss das Leben lieben, wenn man es bestehen will. Selbstfindungsübungen, bei denen man in die verborgensten Winkel der Seele vorzudringen sucht, um sie gründlich auszuleuchten, helfen dabei nicht weiter. Wer sich selbst beim Leben zuschaut, versäumt das Leben, das jetzt gelebt werden soll. Viele kommen deshalb nicht zum Leben, weil sie Voyeure sind und ihre Zeit mit der Beobachtung verschwenden, wie die anderen leben, ob sie stolpern oder Hürden überspringen. Wer das geglückte Leben will, muss „leben, als müsste er täglich sterben, und arbeiten, als dürfte er ewig leben.“ Max Frisch antwortet auf die Frage nach einem gelungenen Leben: „Wenn einer mit sich selbst identisch ist“ und nicht zwei Leben führt: eines, das er vorzeigt und eines, das er versteckt.

      Erwartungen

      Vielleicht litt mancher Steinzeitmensch darunter, dass ihm primitive Werkzeuge, aber keine modernen Maschinen zur Verfügung standen? Vielleicht ging mancher Urmensch nur widerwillig auf die Jagd und wäre glücklich gewesen, hätte er hinter einem Schreibtisch sitzen dürfen? Vielleicht gab es Höhlenbewohner, die das Bemalen der Felswände grässlich fanden und lieber mit Spraydosen hantiert hätten; Pfahlbauer, die statt in Sümpfen Stelzenbauten zu errichten, gerne zum Golfen gegangen wären? Denker, die sich nach einem modernen Forschungslabor sehnten und mittelalterliche Ritter, die sich statt auf ein Pferd, lieber in einen Porsche gesetzt hätten.

      Wahrscheinlich kämen unsere Vorfahren mit unserer Zeit, und wir Heutigen mit deren Zeit nicht zurecht. Einstein hätte hundert Jahre früher die Relativitätstheorie, und Darwin seine Evolutionstheorie sicher nicht gefunden. Bismarck müsste heute statt für die großdeutsche, für die europäische Lösung eintreten. Den Spott Voltaires würde man heute wohl als zu wenig boshaft und beleidigend empfinden; Mozart müsste für Rock und Pop komponieren; und der Kirchenlehrer Augustinus müsste aufgrund seiner Vergangenheit auf das Bischofsamt verzichten, auch wenn das Volk noch so laut riefe: „Den wollen wir!“

      Niemand darf entscheiden, in welcher Zeit er leben will. Aber wer möchte schon vor Jahrhunderten gelebt haben oder Jahrhunderte später leben? Einer, der sich in seiner Zeit nicht zurechtfindet, würde auch nicht in andere Zeiten passen.

      Eschatologie

      Die Leere von den Letzten Dingen ist der Schwachpunkt aller Theologen. Sie wissen zwar, was wir alle tun oder unterlassen sollten, um den Himmel zu erreichen, aber mit unseren Fragen: wie nun das Jenseits beschaffen ist, und was uns da erwartet, lassen sie uns allein. Kein Wunder, dass sich kaum einer nach den Ort, von dem man nicht weiß, wie schön er ist, sehnt und mancher sich wünscht, er könnte hier bleiben. Vor allem wegen der Drohung mit dem Jüngsten Gericht.

      Wir wüssten gern, ob man sich mit der Verwandtschaft noch weiter verwandtschaftlich verbunden fühlen muss und wirklich ausgeschlossen ist, dass sich Ehepartner noch einmal begegnen oder- sollten sie diesen Wunsch verspüren - in einem eheähnlichen Verhältnis miteinander verbunden bleiben dürfen. Werden die ermordet wurden, ihren Mördern danken, dass sie sie, früher als geplant, ins Jenseits schickten? Bekommt man wirklich einen neuen Leib oder seinen alten Leib verbessert, vielleicht mit Flügeln ausgestattet, zurück? Und was sind das für Speisen, die man bei den neuen Gastmählern reicht?

      Es fällt uns schwer zu glauben, dass ein Leben ohne Arbeit glücklich sein kann. Ja, wie sieht es mit der Freizeitgestaltung aus? Und wie beschaffen sind die Freuden, die man angeblich dort erlebt? Wir können uns auch von der Sorge, dass die Ewigkeit mit der Zeit doch langweilig wird, nicht ganz befreien.

      Erzählkunst

      Die Kunst des Fabulierens, auf die sich das ganze Altertum verstand, ist im Zeitalter der Medien nicht sehr angesehen. Man will Informationen ofenwarm auf den Tisch; man bevorzugt den nüchternen, in wenige Zeilen zusammengerafften Bericht, der leicht bekömmlich aufbereitet wurde. Man greift zur flott und unterhaltsam geschriebenen Glosse, die man, ohne lange kauen zu müssen, hinunterschluckt. Da nimmt man sich vielleicht noch Zeit zum Feuilleton, das elegant und weltgewandt daherkommt. Sonst aber bevorzugt man die schmucklose Abhandlung, die nur Fakten bringt, und lässt sich gern von einer Neuigkeit zu einer anderen hetzen.

      Im Zeitalter der Medien wird das Verweilen bei Gedanken, die zu einem Ausflug einladen, als Zeitvergeudung angesehen. Das Erzählen von Geschichten bleibt den Kitas überlassen. Es wäre jedoch nicht verkehrt, wenn die vielen Leitartikler, Kommentatoren, Entertainer, Showmaster und Berichterstatter in die Schule orientalischer Märchenerzähler gingen, um zu lernen, wie man Spannung erzeugt und Aufmerksamkeit erregt.

      Wer die Kunst des Erzählens beherrschen möchte, muss sich darauf verstehen, wie man streunende Gedanken einfängt, müde Gedanken munter macht und schlummernde Gedanken weckt. Er muss die Gedanken, Ängste oder Träume, die wir haben, formulieren können. Der Erzähler macht aus Worten Melodien und bringt Farbe in die Sprache. Das ist das Geheimnis, weshalb man ihm gerne zuhört und der Grund, weshalb er oft ein Aha-Erlebnis auslöst.

      Fabel

      Während wir heute kurz und bündig sagen: es kommt nicht auf die Menge an, sondern auf den Wert, erzählt der Dichter Äsop eine Fabel: