Sabine von der Wellen

Die Narben aus der Vergangenheit


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      Carolin lässt ihren Blick erneut über meine Brust gleitet, diesmal aufmerksam und beurteilend. Sie tritt dicht an mich heran und ihr Zeigefinger streicht ohne Scheu über meine Narbenwölbungen. Ich fühle das wie beim ersten Mal, als sie auf der Tanzfläche im Alando meinen Narben mit dem Finger nachgeforscht hatte.

      „Ich habe deinen Körper, so wie er ist, von Anfang an geliebt. Ich glaube schon vom ersten Mal an, als du mir einen Blick auf deinen Oberkörper gestattet hast“, raunt sie ernst und ihre Augen leuchten im Kerzenlicht.

      Ich schüttele ungläubig den Kopf. „Wie kann man so etwas lieben?“, frage ich verständnislos.

      „Wie kann man so etwas nicht lieben? Er ist wunderschön und deine Narben machen dich zu etwas Besonderem und zu dem, was du bist. Und ich liebe dich, so wie du bist und möchte nichts an dir verändert wissen, außer …“ Sie stockt und sieht zum Tisch, als könne sie so das letzte Wort ungehört machen.

      Ihre Worte nehmen mich gefangen, obwohl ich sie keinesfalls nachvollziehen kann. Niemals hätte ich gedacht, dass jemand meine Narben „lieben“ könnte. Für meine Eltern waren sie so schlimm, dass sie sie nicht mal ansehen konnten. Und wenn Eltern den Makel an einem Kind nicht lieben können, wie soll das dann ein Außenstehender? Und die Narben waren mit mir mitgewachsen, als wollten sie niemals das Größenverhältnis verändern, um ihre Intensität nicht zu verlieren.

      Dennoch gibt es etwas, das sie nicht an mir mag, und das versetzt mir einen Stich in den Magen. Was ist schlimmer als diese Narben?

      „Außer?“, frage ich nach und lege meine Hände auf ihre Oberarme, weil sie einen Moment Anstalt macht, zum Tisch zu fliehen.

      Es dauert, bis sie antwortet und ich sehe ihr an, dass sie es auch lieber nicht tun möchte. Aber mein durchdringender Blick lässt ihr keine Wahl. Nun ist es angesprochen worden und muss ausgesprochen werden. Was mag sie an mir nicht?

      Leise murmelt sie, ohne mich anzusehen: „Ich möchte, dass ich für dich wichtiger bin als deine Drogen, und dass du mich mehr brauchst als sie.“

      Fassungslos starre ich Carolin an. Das übersteigt alles, was mir vielleicht noch selbst eingefallen wäre, und ich muss das erst mal verkraften. Ich lasse sie schnell los und beginne das Essen auf Teller zu verteilen.

      „Komm!“, locke ich sie, und möchte dieses Thema lieber vertagen. Darüber muss ich erst mal nachdenken, denn das war eine Antwort, die ich noch weniger verstehen kann als die, dass sie meine Narben liebt. „Und bring deinen Teller mit“, sage ich noch und lächele sie zurückhaltend an.

      Wir verschlingen das Essen, weil wir so hungrig sind und es so wahnsinnig gut schmeckt. Dazu gibt es Wein, der eher wie Meet schmeckt. Total lecker und süß. Trotz, dass Carolin hungrig war, schafft sie ihre Portion nicht und füttert mich mit ihrem Essen noch mit. Als ich die Lippen zusammenpresse, um sie etwas zu ärgern, klatscht sie es mir trotzdem an den Mund.

      Ich lache und lecke mir über die süßen Lippen. Sie zieht mich zu sich heran und leckt mir über das Kinn, über das die süße Soße läuft.

      Das ist der Auftakt zu einer Essenschlacht. Wir schmieren hemmungslos rum und ich vergesse sogar meine Narben und diesen seltsamen Umstand, dass Carolin möchte, dass sie wichtiger als die Drogen für mich ist. Wie kommt sie nur darauf, dass sie das nicht schon längst ist?

      Sogar den Reis essen wir auf, bis auf den, der auf uns und auf dem Tisch verteilt ist. Nichts bleibt übrig. Nicht mal ein Tropfen Wein, bis auf den, der auf Carolins Stuhl und auf dem Fußboden gelandet ist, als ich versuchte, ihn aus ihrem Bauchnabel zu trinken. Alles klebt. Carolin, ich, die Stühle, der Tisch und der Fußboden.

      Lachend ziehe ich sie vom Stuhl mit der Aufforderung, im Badezimmer schon mal unter die Dusche zu springen. Dabei drücke ich ihr zwei Kerzen in die Hand und raune verschwörerisch: „Wir haben keinen Strom, verstanden? Das ist alles an Licht, was du mitbekommst.“

      Sie lacht verwegen und geht mit den flackernden Kerzen Richtung Badezimmer. Ich wische schnell das Gröbste vom Fußboden und mache alle Kerzen aus, außer zweien, die ich mit ins Wohnzimmer nehme. Eine stelle ich bei Carolins Laptop auf und eine auf dem Tisch. Blueneck ist auch schnell gefunden und ich lasse alle Schalosien in der Wohnung herunter.

      Endlich kann ich ihr folgen und finde sie mit geschlossenen Augen unter dem heißen Wasserstrahl stehend.

      Schnell steige ich zu ihr in die Dusche und flüstere: „Ich habe die Kerzen in der Küche noch ausgemacht. Sonst brennt es nachher noch“, um mein langes Ausbleiben zu erklären.

      Wir seifen uns gegenseitig ein und Carolin versucht mich immer wieder mit sehnsuchtsvollen Küssen zu locken. Aber ich weiß, ich darf nicht zu hochfahren. Ich habe noch viel vor und will in dieser Erwartungshaltung noch einige Zeit verharren. „Warte“, hauche ich deshalb und kann über ihren Schmollmund nur lächeln. Selbst beim Abtrocknen muss ich sie ein wenig zurückweisen und dann, als ich sie ins Wohnzimmer ziehe, sieht sie, was ich vorbereitet habe. Ihre Augen funkeln in freudiger Erwartung, als ich Blueneck anstelle. Ich puste eine Kerze aus und decke das Display mit einem Handtuch ab.

      Die Wohnung wird nur noch vom Schein einer Kerze erhellt. Langsam drehe ich mich um und sehe Carolin an, die dasteht, als wäre sie festgewachsen. Ihre Augen funkeln.

      Ich gehe langsam auf sie zu und meine innere Anspannung steigt. Mir ihre Konturen einprägend, trete ich an den Tisch heran.

      „Erik?“, haucht Carolin verunsichert.

      Ich bücke mich und puste auch das letzte Licht aus.

      Mich packt sofort die Erregung und als meine Hände sich auf ihre Arme legen, ist alles wie an dem Abend, als ich sie zu diesem Deal nötigte, der der Anfang von allem war. Jede meiner Berührungen entlocken ihr ein Seufzen und ich erforsche ihren Körper in dieser Dunkelheit und erinnere mich daran, wie es beim ersten Mal war. Bloß diesmal ist meine Anzahl an Küsse nicht begrenzt und ich schiebe ihr meine Zunge zwischen die Lippen, wann immer ich sie treffe.

      „Komm!“, locke ich sie und lege ihre Hände auf meine Brust. Auch sie beginnt mich zu streicheln, zu fühlen, zu genießen … mit allen Sinnen, die die Dunkelheit bis ins Unermessliche steigert. Selbst unsere Küsse werden zu einem Erlebnis der besonderen Art. Wir streicheln uns und küssen uns mit einer Leidenschaft und Hingabe, als wäre es wirklich das erste Mal und doch mit der Intensität, die man nur in einer längeren Beziehung erreicht. Wir lassen nichts aus und in mir tobt das Verlangen wie ein Buschfeuer. Irgendwann ziehe ich sie durch die Dunkelheit ins Schlafzimmer.

      Carolin lässt sich ins Bett fallen und zieht mich mit.

      Auch diesmal erobere ich sie so wie beim ersten Mal, als sie selbst unseren Deal ausbaute und mir ihr Ja gab, sie ganz besitzen zu dürfen. Und die Erinnerung daran lässt mich kurz das Atmen vergessen.

      Was mir damals als ein Erfolg der besonderen Art erschien, den ich erst nicht glauben konnte und daher fast panisch umsetzte, lasse ich jetzt mit allen Sinnen mich noch einmal erleben. Und mir wird zum ersten Mal bewusst, was dieses Ja von ihr wirklich bedeutet hatte. Ich besaß sie damals schon so viel mehr, als mir bewusst war.

      Und Carolin ist diesmal nicht zurückhaltend und wird diesmal nicht von einem schlechten Gewissen gequält. Sie erwidert meine Liebe mit einer Hingabe, die ich damals nur erahnen konnte. Jetzt weiß ich um diese Stärke und fordere diese komplett für mich. Carolin gehört jetzt mir und das darf sich niemals ändern.

      Am Montagmorgen habe ich Schwierigkeiten, sie in die Welt zu entlassen. Sie wirkt blass und müde und auch mir gibt die Zeitumstellung, die an diesem Wochenende erfolgte, ein Gefühl der Müdigkeit und Unzulänglichkeit mit.

      Sie an mich ziehend, raune ich ihr mit belegter Stimme ins Ohr: „Ich lasse dich so ungern gehen. Am liebsten würde ich mit dir für immer hier in dieser Wohnung bleiben.“ Dabei schweift mein Blick durch unsere vier Wände, die für mich durch Carolin wieder zu einem Zufluchtsort wurden und mit denen ich mittlerweile die schönsten Zeiten meines Lebens verbinde. Hier und bei ihr geht es mir gut.

      „Das würde ich mit dir auch lieber“, antwortet