Sabine von der Wellen

Die Narben aus der Vergangenheit


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sieht er Carolin wie ein getretener Hund an. Und Michaela heult Carolin jeden Tag voll, dass sie ihm verzeihen muss, weil er doch sooo traurig ist.“

      Ich kann es nicht fassen. Carolin hatte das mit keinem Wort erwähnt. Offenbar muss ich Julian mal den Kopf zurechtrücken und wenn es sein muss, Michaela gleich mit.

      „Wir müssen wohl ein ernstes Wort mit Julian reden“, knurre ich, an Daniel gerichtet.

      Im selben Moment erscheint Carolin wieder in der Tür und Daniel nickt nur bestätigend. Carolin scheint das nicht mitzubekommen und ich bin froh darüber. Sie soll davon besser nichts wissen.

      Als wir an diesem Abend im Bett liegen und sie meine Narben streichelt, fragt sie leise: „Erik, habt ihr etwas wegen Julian vor?“

      „Warum?“, stelle ich eine Gegenfrage und kann es nicht fassen, dass sie das ahnt.

      „Bitte lasst es! Ich möchte, dass ihr euch ganz von ihm fernhaltet.“

      Diese Bitte kann und will ich ihr nicht erfüllen. Aber ich kenne sie. Sie wird mir dafür ein Versprechen abknöpfen wollen.

      Ich schiebe mich schnell auf die Seite und drücke sie auf den Rücken, um sie zu küssen. Sie versucht mich zur Seite zu schieben, um eine Antwort zu erhalten und ich fixiere ihre Arme über ihrem Kopf, dränge mich zwischen ihre Beine und küsse sie erneut. Ich bin sofort bereit und presse meine Hüfte an ihre und bedränge sie mit meinem fordernden Freund.

      Nicht lange und sie gibt ihre Abwehrhaltung auf und erwidert meine stürmische Zuneigung. Das Thema ist erst mal beendet. Doch zu meinem Leidwesen alles andere auch bald. Carolin hat ihre Tage und ich lasse von ihr ab und nehme sie in meine Arme, mich nur noch auf Streicheleinheiten begrenzend, um sie das Thema auch nicht wieder aufnehmen zu lassen. Müde und abgekämpft lässt sie sich bald in den Schlaf fallen.

      Ich kann nicht so schnell einschlafen. In meinem Kopf spielen sich hundert Möglichkeiten ab, was ich mit Julian anstellen möchte, um ihm klarzumachen, dass er sich von seiner Schwester fernzuhalten hat. Wenn ich tun könnte, was ich tun möchte, dann hätte er nichts mehr zu lachen.

      Am nächsten Tag sind es allerdings nicht Daniel und ich, die Julian auflauern, sondern Julian, der uns auflauert. Wir stehen in der Pause in der Raucherecke, als Daniel mich anstößt und ich mich umdrehe.

      Hinter mir taucht Julian auf. Seine dunkelbraunen Augen sehen mich wütend an und er zischt, als ich mich zu ihm umwende: „Erik, auch wenn du dich für den Größten hältst, leg dich bloß nicht mit mir an. Wenn du Carolin nicht mit mir reden lässt oder sie irgendwie manipulierst, damit sie mich ignoriert, dann mache ich dir das Leben zur Hölle!“

      Ich muss gestehen, dass ich erst etwas perplex bin. Aber dann knurre ich: „Was willst du Spinner überhaupt? Glaubst du wirklich, ich lasse dich auch nur auf zwei Meter in ihre Nähe kommen?“

      Julians Augen verengen sich und er streicht sich mit einer fahrigen Bewegung seine dunklen Haare zurück. Dann stößt er seinen langen, schmalen Zeigefinger vor meine Brust und faucht: „Sie ist immer noch meine Schwester und du hast ihr und mir gar nichts zu sagen. Wenn ich mit dem Finger schnippe, bist du wieder im Knast, wo solche wie du hingehören. Ich weiß alles über dich! Also pass auf, was du tust oder sagst. Ich werde nicht zulassen, dass sie an so etwas wie dir hängen bleibt. Carolin und ich sind Geschwister und werden immer Geschwister bleiben, auch wenn solche wie du schon längst Schnee von gestern sind. Sie wird das irgendwann einsehen. Sie kann mich nicht ewig ignorieren. Also stell dich nicht zwischen uns.“

      Ich starre ihn nur an, und er dreht sich um und geht. Jeden anderen hätte ich platt gemacht. Aber hier, heute und bei Julian stehe ich nur da, als wäre ich festgewachsen.

      In mir brodelt etwas auf. Er weiß alles über mich und mit einem Wort kann er mich bei ihren Eltern in Misskredit bringen. Und das erscheint mir schlimmer, als die Drohung, mich wieder in den Knast zu bringen.

      Daher erscheint mir dann auch der Deal, den wir am späten Nachmittag für Walter zu erledigen haben, wie eine unnötige Gefahr. Das sind die Momente, in denen Julian leichtes Spiel hätte, wüsste er davon. Aber woher soll er das wissen? Bisher hatte er sich angeblich nur bei Mitschülern über mich und Daniel erkundigt, was mir allerdings schon als schlimm genug erscheint. Selbst das, was er da zu hören bekommen könnte, soll Carolins Eltern auf keinen Fall zu Ohren kommen.

      Aber bei dem Auftrag verläuft alles reibungslos und Daniel und ich gehen sofort in meine Wohnung hoch, weil in Daniels nicht mal Licht brennt.

      Tatsächlich finden wir Ellen dort, die uns gleich entgegenspringt, Daniel küsst und ihn aufgedreht fragt: „Schatz, gehen wir gleich zur Kirmes? Die andern sind da heute Abend auch.“

      In mir schrillen sofort alle Alarmglocken. Ich tue so, als hätte ich das überhört und suche Carolin. Aber sie ist nirgends.

      „Wo ist Carolin?“, brumme ich eiskalt. Wenn Ellen nur diesen Scheiß im Kopf hat und Carolin nicht abgeholt hat, ist was los!

      „Hier, Schatz!“, kommt es vom Badezimmer her und ich atme auf.

      „Gut“, raune ich beruhigt. „Ich dachte schon, Ellen hätte dich vergessen. Die hat wieder nur Partys im Kopf!“

      Carolin kommt zu mir und küsst mich, was mich ein wenig meine aufgekeimte Wut schlucken lässt. Aber dass die Mädels schon wieder losziehen wollen, lässt meine Wut nicht ganz verrauchen.

      „Nah und? Dann wäre ich auch allein nach Hause gegangen“, sagt sie und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln.

      Ellen sagt schmollend: „Wenn ich sage, ich hole sie, dann mache ich das auch.“

      Wir gehen in die Küche und Carolin ruft, um die Stimmung etwas zu heben: „Wochenenddrink!“

      Aus dem Kühlschrank nimmt sie zwei Bier und zwei Alster und verteilt sie. Zu meinem Leidwesen startet Ellen erneut: „Gehen wir heute zur Kirmes? Bitte! Die Mädels sind auch da.“

      „Können wir“, sagt Daniel und stupst sie an ihre Nasenspitze. Seine blauen Augen funkeln sie spitzbübisch an. „Aber dann fährst du auch mit mir Karussell.“

      „Was immer du willst“, sagt sie grinsend und sieht sich ihrem Ziel schon ganz nah.

      „Wir nicht“, sage ich nur und trinke mein Bier.

      Zu meiner Überraschung trinkt Carolin nur ihr Alster und sagt nichts. Sie scheint tatsächlich meine Antwort zu akzeptieren.

      Aber Ellen will das nicht gelten lassen. „Natürlich kommt ihr mit“, knurrt sie.

      „Nein, wir bleiben heute zu Hause. Morgen gerne. Aber nicht heute! Carolin war schon den ganzen Tag unterwegs und jeden Freitag passiert etwas. Sie ruht sich aus und morgen können wir machen, was sie möchte“, antworte ich Ellen mit unerbittlichem Blick.

      Und Carolin sieht mich zufrieden an und murmelt: „Ich bin auch wirklich ziemlich kaputt.“

      Ich werfe ihr einen schnellen, unsicheren Blick zu. Kein Widerstand heute? Unglaublich!

      Daniel beschwichtigt Ellen, weil die schon wieder an die Decke zu gehen droht: „Süße, wir gehen einfach alleine. Morgen kommen die beiden dann mit. Carolin hat wirklich ein strenges Wochenprogramm und es soll ihr doch nicht alles zu viel werden.“

      Ellen sieht ihn an, als wolle sie ihn fressen. Doch dann scheint sie die Ausweglosigkeit zu erkennen, in der sie ihr Anliegen von vornherein hätte sehen müssen und nickt nur schmollend. Dafür trinkt sie nun schnell ihre Flasche leer und mahnt zum Aufbruch.

      Daniel kann nur genauso schnell sein Bier hinunterkippen und verabschiedet sich von uns, eine wegwerfende Handbewegung machend. Dabei grinst er mich an und ich nicke nur, froh, dass die beiden endlich gehen. Ich bringe sie sogar noch zur Tür und verabschiede sie.

      Ellen geht, ohne mich auch nur anzusehen.

      Als sie endlich weg sind, rauche ich am Wohnzimmerfenster stehend erst mal eine Zigarette, während ich Carolin in der Küche hantieren höre.

      Die Backofentür