Sandra Grauer

Schattendasein - Der erste Teil der Schattenwächter-Saga


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ich den Satanismus-Ordner hervor und blätterte ihn durch, bis ich endlich das Handout fand, das Gabriel an seine Klassenkameraden verteilt hatte. Und dort stand es, ganz oben rechts in der Ecke: Gabriel Lennert. »Wusst ich's doch«, murmelte ich vor mich hin und grinste triumphierend. Wenn Gabriel meinte, mich über's Ohr hauen zu können, musste er früher aufstehen. Ich griff nach meinem Handy und wählte Hannahs Nummer, um ihr alles zu erzählen, doch es meldete sich nur die Mailbox. Ich bat sie, mich zurückzurufen, und lief ein paar Mal in meinem Zimmer auf und ab. Jetzt stand ich wieder am Anfang der Recherche und hatte immer noch keinen weiteren Anhaltspunkt. Natürlich hätt ich auch einfach aufgeben können, aber nun hatte mich der Ehrgeiz gepackt. Ich wollte unbedingt herausfinden, was Gabriel vor mir geheimhalten wollte. Und dafür gab es nur einen Weg: Ich musste versuchen, ihn aus der Reserve zu locken. Oder besser noch, ich könnte es mal bei Joshua versuchen. Vielleicht war er ja kooperativer. Irgendwie musste ich doch an die Adresse der beiden kommen. Ich sah noch einmal im Ordner nach, doch weder auf dem Handout noch sonst irgendwo stand ein Straßenname, also probierte ich es auf gut Glück im Internet. Ich hatte kein Glück. Schließlich hatte ich aber die rettende Idee, auf die ich schon längst hätte kommen müssen. Ich lief nach unten ins Wohnzimmer und zog einen Ordner aus dem Schrank, in dem meine Mutter die Schulunterlagen von mir und meinem Bruder aufbewahrte. Ungeduldig blätterte ich die Seiten durch und fand endlich, wonach ich suchte: die Adressliste des Jahrgangs meines Bruders. Ich sprang sofort zum Buchstaben L und fand dort gleich nach Brigitte Laus Gabriel Lennert. Er wohnte im Schloss-Wolfsbrunnenweg 1. Ich war selbst noch nie dort gewesen, doch ich konnte den Straßennamen sofort einordnen. Hoch über dem Heidelberger Schloss hatte es früher das alte Schlosshotel gegeben, das leider irgendwann hatte schließen müssen. Eine Baufirma hatte das Gebäude erst vor wenigen Jahren gekauft und zu teuren Luxuswohnungen umgebaut. Und dort wohnte Gabriel also. Die Familie musste wirklich Geld haben, wenn sie sich das leisten konnte. Ich schob den Ordner zurück ins Regal und ging wieder nach oben in mein Zimmer. Es half alles nichts. Wenn ich in der Sache weiterkommen wollte, musste ich mich in die Höhle des Löwen begeben. Je eher, desto besser, also wollte ich mich gleich morgen nach dem Frühstück auf den Weg machen.

      Ich hatte die halbe Nacht über kaum ein Auge zugetan und war auch am Morgen früh wach. Zwar war ich noch müde, doch ich wusste, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Ich war alleine, Tim hatte in der letzten Nacht seinen Männerabend nachgeholt, den er am Samstag zuvor extra für mich abgesagt hatte. Mir war das sogar ganz recht. So musste ich mich nicht rechtfertigen oder unter irgendeinem Vorwand aus dem Haus stehlen.

       Da meine Mutter und Mark noch schliefen, schlich ich mich ins Badezimmer und nahm eine ausgiebige Dusche. Ich hatte Zeit, denn ich wollte nicht unhöflich sein und Gabriel oder seine Familie an einem Samstagmorgen vor neun Uhr stören. Als ich eingewickelt in ein weiches Handtuch in meinem Zimmer vor meinem Kleiderschrank stand, überlegte ich einen kurzen Moment, ob ich den Gürtel tragen sollte, den Gabriel mir geschenkt hatte. Vielleicht würde ihn das ja milde stimmen, doch als ich genauer darüber nachdachte, bezweifelte ich das. Er würde sich höchstens über mich lustig machen, also ließ ich es.

       Nachdem ich gefrühstückt hatte, war es halb neun. Ich würde noch eine ganze Weile brauchen, ehe ich am alten Schlosshotel sein würde, daher schrieb ich meiner Mutter eine kurze Nachricht und machte mich auf den Weg. Ich nahm mein Fahrrad mit und stieg in den nächsten Bus Richtung Innenstadt. Vom Marstall aus ging es mit dem Rad weiter. Ein gutes Stück konnte ich noch fahren, doch irgendwann ging es zu steil den Berg hinauf, und ich musste absteigen und schieben. Ich kam an einigen Häusern vorbei, in denen Studentenverbindungen untergebracht waren. Es waren schöne Häuser, da konnte man nichts sagen.

       Etwas außer Atem erreichte ich schließlich die neuen Luxuswohnungen am Schloss-Wolfsbrunnenweg. Es war wirklich beeindruckend. Die Gebäude sahen hübsch aus, und von hier oben hatte man einen herrlichen Ausblick auf die Altstadt. Es musste toll sein, hier zu wohnen.

       Während ich mein Fahrrad abschloss, hoffte ich, dass Gabriel oder Joshua auch da sein würden. Aber ich hatte ein Buch mitgenommen und würde notfalls einfach warten. Ich ging in Richtung Eingangstür und überlegte, wie ich Gabriel dazu bringen konnte, mich überhaupt hereinzulassen. Ich beschloss, das Referat vorzuschieben und ging die wenigen Stufen hinauf, um auf den Klingelschildern nach Lennert zu suchen, als sich die Eingangstür öffnete und ein kleines Mädchen mit einem Hund auf dem Arm herausstürmte. Sie blieb in der Tür stehen und setzte den Hund auf dem Boden ab. Er sah noch sehr jung aus und war ungemein putzig. In einem Affentempo raste er neben mir die Stufen hinunter und zum nächsten Baum, wo er sich erleichterte. Lächelnd sah ich das Mädchen an, die mit den Schultern zuckte.

       »Wir haben das noch nicht ganz im Griff mit dem Klogehen. Er muss das erst noch lernen.«

       »Verstehe«, meinte ich immer noch lächelnd. »Er sieht auch noch sehr jung aus. Wie alt ist er denn?«

       »Zwei Monate. Ich habe ihn erst seit einer Woche. Er heißt Erwin.«

       »Erwin? Interessanter Name für einen Hund.«

       »Mein Opa hieß so. Leider hab ich ihn nie kennengelernt.«

       »Oh, tut mir leid«, sagte ich und fühlte mich etwas unbehaglich. Ich beschloss, das Thema zu wechseln. »Sag mal, weißt du zufällig, in welcher Wohnung Gabriel Lennert wohnt?«

       Das Mädchen kicherte. »Bist du die neue Freundin von meinem Bruder?«

       »Ach, Gabriel und Joshua sind deine Brüder?«, fragte ich überrascht.

       Sie nickte. »Ich bin Lilly.« Höflich hielt sie mir die Hand hin.

       Ich schüttelte sie und sah mir Lilly etwas genauer an. Wenn man es wusste, war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen. Sie hatte wie Gabriel dunkle Haare und grüne Augen und sah ziemlich süß aus. Ich schätzte sie auf höchstens zehn Jahre. »Hallo Lilly, ich bin Emmalyn. Sagst du mir, wo ich deine Brüder finde? Ich muss was mit ihnen besprechen.«

       »Wir wohnen ganz oben. Du kannst ruhig hochgehen, die Tür ist nur angelehnt. Erwin hatte es eilig, deshalb hab ich keinen Schlüssel dabei. Gabriel und Joshua sind im Arbeitszimmer meines Vaters.«

       Ich nickte. »Wo ist das Arbeitszimmer?«

       »Ganz hinten mit der Doppeltür. Geh einfach rein, meine Mama ist nicht da.« Sie lächelte verschmitzt und hielt mir die Tür auf.

       Ich trat an ihr vorbei. »Was ist mit dir?«

       »Ich bleib noch einen Moment mit Erwin draußen. Er kennt noch nicht alle Bäume in der Gegend.« Fröhlich sprang sie die Stufen hinunter und rief nach Erwin, der sich allerdings nur mäßig dafür interessierte.

       Ich drehte mich um und nahm den Aufzug nach oben. Wie Lilly gesagt hatte, war die Wohnungstür nur angelehnt. Ich zögerte einen Moment, doch dann klopfte ich und schob sie auf. »Hallo?«, rief ich in den Flur und wartete auf eine Reaktion, doch die blieb aus. Stattdessen hörte ich laute Stimmen. Sie kamen vom Ende des Flurs, wo aller Wahrscheinlichkeit nach das Arbeitszimmer lag. Wieder zögerte ich und überlegte, was ich machen sollte. Ich wollte nicht unhöflich sein und lauschen. Das Beste würde wohl sein, ich würde einfach hingehen und anklopfen. Ohne an Lilly zu denken, schloss ich die Haustür und ging den Flur entlang. Die Stimmen wurden immer lauter. Worüber die wohl stritten?

       »Hör zu, Vater, ich krieg das auch allein hin. Ich brauch keinen Babysitter.« Ich erkannte eindeutig Gabriels Stimme.

       »Du weißt genau, worum es bei der ganzen Sache geht«, antwortete eine tiefe, aber angenehme Stimme. Das musste Gabriels Vater sein. »Das hat nichts mit deinen Fähigkeiten zu tun. Es ist einfach nicht sinnvoll, allein auf die Jagd zu gehen. Das haben wir in der letzten Woche gesehen.«

       In der Nähe der Tür blieb ich stehen. Was für eine Jagd denn? Ich konnte mir ja vieles vorstellen, aber nicht, dass Gabriel Spaß daran hatte, Tiere zu töten. Eigentlich hatte ich ja anklopfen wollen, doch jetzt war ich neugierig. Ich schlich noch ein paar Schritte näher an die Tür heran.

       »Aber es war doch nur eine Woche, in der ich auch noch meine vier schriftlichen Abiprüfungen hatte. Jetzt hab ich Zeit. Ich brauch nur ein bisschen Übung, dann geht das schon.«

       »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Es wird schwierig sein, aber ich werde auf jeden Fall versuchen, einen Ersatz