Sandra Grauer

Schattendasein - Der erste Teil der Schattenwächter-Saga


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war auch ich mir sicher, dass die Sache Sinn machte. Je mehr ich jedoch darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Ich konnte mir Gabriel zwar durchaus als Mitglied einer Burschenschaft vorstellen, ob nun geheim oder nicht, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass noch mehr dahintersteckte. An besagtem Samstagabend waren Dinge geschehen, die sich mit dieser Lösung einfach nicht erklären ließen.

       Warum war zum Beispiel der eine Mann ohnmächtig gewesen? Wenn sie dort auf dem Spielplatz geübt hatten, hätten sie sich doch nicht gegenseitig verletzt oder der Polizei überlassen. Dann war da noch dieses komische Wesen gewesen, das verbrannt war. Wie ließ sich das erklären? Und wenn man mal von all diesen Dingen absah, war Gabriel noch dabei, sein Abitur zu machen. Er musste doch im Moment weitaus Wichtigeres zu tun haben, als sich um solche Burschenschaften und Aufnahmerituale zu kümmern. Schließlich war er gerade mit seinen schriftlichen Prüfungen beschäftigt. Ich bezweifelte, dass er sich schon an der Uni beworben hatte. Immerhin lief die Bewerbungsfrist bis zum Sommer, und er hatte ja noch nicht einmal sein Abiturzeugnis vorzuweisen. Und ohne das konnte er sich nicht bewerben, schon gar nicht für ein Fach, für das man einen bestimmten Notendurchschnitt vorweisen musste. Warum also sollte er bereits Mitglied einer Burschenschaft sein?

       Ich kannte mich damit zwar überhaupt nicht aus, aber ich war mir ziemlich sicher, dass man im ersten Semester oder zumindest bereits an einer Uni eingeschrieben sein musste, um Mitglied zu werden. Wie man es auch drehte und wendete, es ergab alles keinen Sinn. Wenn ich mit Hannah darüber sprach, winkte sie bloß ab. Gabriels Familie hätte doch Geld, da gäbe es solche Zwänge sicher nicht. Aber ich ließ mich nicht überzeugen, und schließlich kam mir der Zufall zu Hilfe. In der Stadt traf ich Oliver, einen Kommilitonen von Tim, der Mitglied in einer Heidelberger Studentenverbindung war. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf. Vielleicht konnte ich ihn ja ein wenig über Studentenverbindungen aushorchen.

       »Hi Oliver«, begrüßte ich ihn, als er auf der überfüllten Hauptstraße fast an mir vorbeigegangen wäre, ohne mich zu bemerken.

       »Ach Emmalyn, hab dich gar nicht gesehen«, erwiderte er und drückte mir ein Küsschen auf die Wange. »Wie geht’s?«

       »Gut, danke. Und dir? Was macht die Uni?«

       »Alles super. Ab und zu mal ein Kurs und ansonsten das Studentenleben in vollen Zügen genießen. Was will man mehr?«

       Ich nickte zustimmend, auch wenn ich nicht zwingend seiner Meinung war. Ich kannte Oliver gut genug, um zu wissen, was er darunter verstand, das Studentenleben in vollen Zügen zu genießen. Am Wochenende ernährte er sich fast ausschließlich von Bier, die Semesterferien waren für ihn ein einziger Rausch, und seine Freundinnen wechselte er fast so häufig wie andere Leute ihre Unterwäsche. Ich mochte ihn nicht sonderlich, aber da musste ich jetzt durch, wenn er mir helfen sollte.

       »Hey, hast du grad zufällig Zeit? Ich recherchiere über Studentenverbindungen, und du kannst mir doch bestimmt ein paar interessante Sachen erzählen.«

       »Klar, wenn du willst. Ich wollte eh grade was essen gehen, kommst du mit?«

       »Gern«, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln.

       Wir kämpften uns durch die volle Hauptstraße in Richtung Uniplatz durch, während Oliver begann, einfach drauflos zu erzählen. In der Heidelberger Altstadt gab es zwei Mensen, das wusste ich schon dank Tim, und ich hatte auch schon in beiden von ihnen gegessen. Die Triplex-Mensa lag direkt am Uniplatz. Sie verströmte den typischen Kantinencharme. Dann gab es noch die Mensa im Marstall nur wenige Hundert Meter entfernt. Dort ging ich lieber hin, und das nicht nur, weil ich das Essen dort besser fand. Dort pulsierte einfach das Leben, man war mittendrin. Man spürte zwar überall, dass Heidelberg eine Studentenstadt war. Das lag zum Teil natürlich auch daran, dass die Universitätsgebäude in der ganzen Stadt verteilt waren. Aber ich fand, nirgends war dieses Gefühl so stark wie in der Mensa im Marstall. Hier war es immer voll, egal, wann man herkam. Morgens tranken die müden Studenten hier ihren ersten Kaffee, der natürlich trendig als Latte Macchiato oder als Cappuccino daherkam. Später aß man hier zu Mittag oder saß einfach nur beisammen, und abends gab es Cocktails und Musik. Die Mensa war riesig. Man konnte nicht nur drinnen sitzen, auch draußen gab es unzählige Tische. Und wer hier keinen Platz mehr bekam, setzte sich einfach auf den Rasen.

       »Gehen wir zum Marstall?«, fragte ich, als wir am Uniplatz angekommen waren und uns entscheiden mussten, ob wir rechts zur Triplex-Mensa oder links zum Marstall wollten.

       »Sicher«, meinte Oliver und erzählte weiter von seinem Leben als Verbindungsstudent.

       Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, weil ich die meisten Geschichten schon kannte, und genoss die Atmosphäre. Wie erwartet war es im Mensabereich bereits ziemlich voll. Es war ein warmer Tag, und die großen, bodenlangen Fenster des Gebäudes waren geöffnet. Wir gingen hinein, holten uns was zu essen und suchten uns dann einen Platz im Freien. Alle Tische waren bereits belegt, aber wir fanden noch zwei freie Plätze an einem Tisch und quetschten uns einfach dazu. Ich hörte Oliver eine ganze Weile weiter zu, während er erzählte, um ihn gnädig zu stimmen. Doch dann wollte ich Antworten auf meine Fragen.

       »Sag mal, ab wann kann man eigentlich einer solchen Verbindung beitreten?«, fragte ich schließlich.

       »Wie meinst du das, ab wann? Theoretisch kann jeder Student beitreten.«

       »Lass es mich anders formulieren: Ist es möglich, dass ein Schüler, der noch nicht mal sein Abi in der Tasche hat, Mitglied in einer Verbindung ist?«

       Oliver lachte. »Wo hast du denn das her? Das ist völlig absurd.«

       Also doch. »Ich hatte mir schon so was gedacht. Und wie viele Verbindungen gibt's in Heidelberg?«

       Oliver seufzte. »Gott, da fragste mich was. Irgendwas um die vierzig, denk ich. Nagel mich aber nicht drauf fest.«

       »Das passt, ich wollte nur 'ne ungefähre Vorstellung davon haben, wie viele es sind. Kennen sich denn alle untereinander?«

       Nun grinste er. »Klar kennt man sich untereinander. Man muss doch die Konkurrenz abchecken.«

       Ich nickte. »Die Frage klingt jetzt vielleicht ein bisschen blöd, aber gibt's auch geheime Verbindungen?«

       »Dann wären sie ja nicht mehr geheim, oder?«, meinte Oliver und lachte.

       Ich versuchte es anders. »Hast du schon mal was von Custos umbrarum gehört?« Er überlegte einen Moment. »Nö, hab ich noch nie von gehört. Was soll das sein? 'Ne Verbindung?« »Ich glaub schon. Genau genommen ist es 'ne Burschenschaft. Ich weiß nicht, ob's da 'nen Unterschied gibt.« »Eine Burschenschaft ist 'ne bestimmte Art von Verbindung. Studentenverbindung ist nur der Überbegriff«, erklärte Oliver fast etwas geistesabwesend. »Custos umbrarum«, murmelte er immer wieder. »Tut mir echt leid, hab ich noch nie gehört. Muss ich die kennen?« »Bin nicht sicher. Ich hab was über die im Internet gelesen, weiß aber nicht, ob man dem trauen kann. Vielleicht könntest du dich mal ein wenig umhören?« Oliver zuckte die Schultern und schob seinen leeren Teller beiseite. »Kann ich machen, wenn's dir weiterhilft.« Ich nickte. »Das wär toll.« »Mach ich. Du, ich muss langsam mal.« »Kein Problem, du hast mir schon sehr geholfen.« Wir verabschiedeten uns voneinander. Ich blieb noch einen Moment sitzen, trank meine Cola aus und dachte in Ruhe darüber nach, was ich erfahren hatte. Eines war jedenfalls klar: Selbst wenn es diese Burschenschaft tatsächlich gab, die Wahrscheinlichkeit, dass Gabriel Mitglied war, war relativ gering. Mal sehen, was Oliver über die Burschenschaft herausfinden würde. Ich musste mich zwei ganze Tage gedulden, bis ich endlich etwas von Oliver hörte. Er ließ mir über Tim mitteilen, dass noch nie jemand etwas über diese Burschenschaft gehört hätte. Ich wurde noch skeptischer. Das waren alles nur Indizien und keine Beweise. Die Burschenschaft konnte auch so geheim sein, dass niemand was davon wusste, aber das glaubte ich nicht. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass diese geheime Burschenschaft nur dazu da war, einen auf die falsche Fährte zu locken. Als ich Freitagabend allein zu Hause in meinem Zimmer saß und mich einfach nicht auf mein Buch konzentrieren konnte, beschloss ich, noch einmal im Internet nachzusehen. Vielleicht hatten Hannah und ich ja etwas Wichtiges übersehen. Ich klickte mich durch die ganze Seite und las mir alles ganz genau durch, doch ich fand nichts Neues heraus. Schließlich sah ich mir sogar das Impressum an – und fiel fast vom Stuhl: Ein gewisser