Nathan R. Corwyn

Keeva McCullen 3 - Invasion der Ghule


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seufzte.

      Bisher hatte er einen erneuten Besuch beim Augenarzt ständig vor sich hergeschoben. Er ging langsam aber sicher auf die Fünfzig zu und hatte sich immer eingebildet, für sein Alter ziemlich gut in Form zu sein.

      Seine zwei Jahre jüngere Ehefrau wiederum benutzte schon länger eine Lesebrille, wirkte sonst jedoch noch sehr jugendlich - von daher wäre es wohl kein Zeichen von Schwäche, wenn er sich auch bald eine anschaffen würde. Allerdings bemerkte Edward gerade einen eitlen Wesenszug an sich: wenn er zugeben müsste, dass er ebenfalls – altersbedingt – eine Sehhilfe benötigte, dann käme es dem Eingeständnis gleich, dass er … nun ja, dass er eben alt wurde. Und er hätte nie geglaubt, dass ihm das einmal so schwer fallen würde.

      Vielleicht ist hier oben ja auch nur die ungenügende Beleuchtung schuld, dachte er hoffnungsvoll.

      Um herauszufinden, in welcher Nähe die Konturen letztendlich scharf sein würden, ging er noch einige Schritte in Richtung Wand – doch die Buchstaben blieben verschwommen.

      Das kann doch nicht sein, schoss es ihm durch den Kopf. Er stand jetzt vielleicht zwei Meter von der Wand entfernt. Waren seine Augen denn wirklich schon so schlecht? Jetzt wollte er es aber genau wissen! Energisch schritt er weiter auf die Mauer zu und hatte sie bereits fast erreicht - als von unten eine laute Stimme zu vernehmen war: „He, Edward!“

      Das unverwechselbare Organ von Herbert Bliss dröhnte durch das Haus.

      „Bist du da oben irgendwo?“

      Edward blieb stehen, drehte sich um und ging zurück ins Treppenhaus.

      „Ich komme gleich zu dir“, rief er und warf noch einen letzten, wehmütigen Blick auf das verschwommene Graffiti-Geschmiere. Er würde gleich nächste Woche einen Termin beim Augenarzt vereinbaren. Es wurde wohl langsam Zeit, sich damit abzufinden, dass er einfach keine Zwanzig mehr war. Auch wenn das natürlich nur seine Sehkraft betraf, ansonsten war er unverändert fit.

      Betont schwungvoll eilte er die Treppen zu dem Reinigungsfachmann herunter, der ihn im ersten Stock erwartete.

      „Was ist los?“, fragte er, als er unten ankam. Er ignorierte das heftige Klopfen seines Herzens.

      Herbert deutete auf ein Handy.

      „Habe gerade den Anruf von meinem zweiten Trupp bekommen. Sie wären jetzt soweit und könnten zu dem anderen Tatort kommen, von dem du gesprochen hast. Wir brauchen nur die Adresse und die Schlüssel.“

      Edward nickte. Gemeint war das Versteck der Sukkubus. Im Gegensatz zu dem gut gekühlten Haus hier war jene Wohnung allerdings beheizt gewesen – und das dort vergossene Blut und die abgerissenen Hautfetzen der Opfer waren in einen deutlich fortgeschritteneren Zustand der Verwesung übergegangen.

      Er nannte Herbert die Adresse.

      „Ich komme auch gleich dorthin, ich habe die Schlüssel bei mir“, sagte er dann. „Aber deine Jungs sollten sich auf einen ziemlich üblen Gestank einstellen.“

      Herbert grinste schief.

      „Na, dann kann ich ja nur froh sein, dass ich mir bei der Auftragsverteilung heute morgen diese Baustelle hier zugeteilt habe“, meinte er fröhlich – und machte sich sogleich daran, seinen Mitarbeitern per Handy die notwendigen Informationen zu übermitteln.

      *

      Liekk-Baoth zog sich vom Portal zurück. Er wirkte erleichtert, aber auch ein klein wenig enttäuscht.

      „Er ist weg“, meinte er, zu seinem Meister gewandt.

      Dieser schnaubte nur und begann mit seiner Wanderung durch die Höhle, die mächtigen Pranken auf dem Rücken verschränkt – wie üblich, wenn er über irgendein Problem nachdachte.

      „Das war mir zu knapp“, meinte er düster.

      Liekk-Baoth musste ihm recht geben.

      Doch er konnte nicht mehr tun, als seinem Herrn immer wieder zu erklären, dass ein Dämonenportal – und sei es noch so gut getarnt – in einer belebten Großstadt nun einmal eher in Gefahr geriet, entdeckt zu werden, als irgendwo in einem finsteren, womöglich sowieso schon verrufenen und daher gemiedenen Wald.

      Er würde ja zu gerne wissen, warum der Erzdämon dieses Risiko trotzdem eingegangen war – aber er musste sich wohl weiterhin in Geduld üben, ehe er diesbezüglich eine Antwort bekam.

      „Wir müssen ein Ablenkungsmanöver starten“, überlegte sein Meister gerade laut. Er verstummte, wanderte einige weitere Male hin und her – und blieb schließlich mit entschlossenem Gesichtsausdruck stehen.

      „Schicke ein paar Ghule durch“, befahl er. „Aber warte damit, bis es drüben Nacht ist.“

      Liekk-Baoth konnte nicht anders, er musste seinem Meister einmal mehr Hochachtung zollen: Ghule waren einfach perfekt für ein derartiges Täuschungsmanöver!

      Diese niedrigen Dämonen vermehrten sich wie eine Seuche, sie waren anspruchslos, vollkommen frei von Intelligenz – konnten also auch niemanden verraten – und was das Wichtigste war: sie würden sich sofort vom Portal entfernen, auf irgendeinem hoffentlich recht weit entfernten Friedhof einnisten und dort nach einiger Zeit ganz bestimmt Aufmerksamkeit erregen – und so, wie erwünscht, vom wirklichen Standort des Tores ablenken.

      „Meister, Ihr seid genial“, schleimte der Formwandler und verneigte sich tief.

      Der Erzdämon grunzte geschmeichelt, kehrte seinem Berater den Rücken zu und verließ das Gewölbe.

      *

      Poppy Rowle schrak aus dem Schlaf hoch. Irgendetwas hatte sie geweckt!

      Sie dachte sofort an das furchteinflößende Gebrüll zurück, das vor einigen Wochen aus dem Haus gegenüber geklungen war und für ziemliche Aufregung gesorgt hatte. Sie selbst hatte es leider nicht mitbekommen, aber die Nachbarn hatten ihr davon erzählt und die Polizei hatte das Gebäude wochenlang abgesperrt.

      Und damit nicht genug: kaum war die Sperre aufgehoben worden, hatten irgendwelche zugedröhnten Jugendliche in demselben Haus satanischen Rituale durchgeführt und sich dabei selbst umgebracht. So jedenfalls hatte der Klatsch in der Nachbarschaft die erneute Anwesenheit von einem Leichenwagen und der Polizei erklärt. Und meistens war an solchen Gerüchten doch immer auch etwas Wahres dran, oder nicht?

      Sie lauschte erregt. Möglicherweise passierte dort drüben ja erneut etwas Unheimliches. Und diesmal würde sie es als eine der ersten mitkriegen - und hätte dann endlich einmal selbst etwas zu erzählen. Doch alles blieb still. So still es in diesem heruntergekommenen Viertel jedenfalls sein konnte. Seit Ken sie verlassen hatte, musste sie mit wenig Geld über die Runden kommen – und da konnte sie sich leider keine Wohnung in einer besseren Gegend leisten, so sehr sie sich das auch gewünscht hätte.

      Ein blauer Lichtblitz zuckte über die verdreckte Scheibe ihres Schlafzimmerfensters. War sie dadurch vorhin aus dem Schlaf gerissen worden? Zwei weitere Blitze folgten, stumm, aber trotzdem - oder vielleicht auch gerade deswegen - ganz schön unheimlich. Wie die Übertragung eines Feuerwerks im Fernsehen, nur ohne Ton.

      Sie starrte eine Weile in Richtung des Fensters, doch das schien es schon gewesen zu sein - es folgten keine weiteren Lichterscheinungen mehr.

      Wer weiß, was das war, überlegte sie. Bestimmt nur irgendwelche Jugendliche mit ihren neumodischen elektronischen Spielereien. Oder ein Gewitter, das sich ankündigte. Allem Anschein nach jedoch nichts Geheimnisvolles, glaubte sie, etwas enttäuscht.

      Mühsam drehte sie sich auf die andere Seite und sah auf die Uhr. Es war drei Uhr morgens. Sie stöhnte. In nur drei Stunden würde der Wecker klingeln und sie musste sich für die Arbeit fertig machen. Sie sollte also schleunigst wieder einschlafen, wenn sie morgen nicht den ganzen Tag von Kopfschmerzen geplagt sein wollte.

      Poppy zog die Bettdecke über die Schultern und schloss die Augen, merkte aber recht schnell, dass das keinen Sinn haben würde. Sie schwitzte und war durstig, so würde sie niemals einschlafen können.