J.P. Conrad

In einer Stunde tot


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war. Aber ich war mir mit einigen Dingen heute Abend schon so sicher gewesen.

      »Du musst dringend ins Bett, höchste Eisenbahn!«, sagte ich zu mir und ging weiter. Mein Weg führte links an der Bank mit der Gestalt darauf, vorbei. Als ich näher kam, erkannte ich, dass es sich um einen Mann handelte. Und ich stutzte: Er trug einen Pyjama. Was sollte das? War das ein Halloween-Kostüm? Ich sah nun aber auch, dass er barfuß war und dachte mir, es könnte sich vielleicht um einen Patienten aus meinem Krankenhaus handeln, der ausgebüchst war. Wer immer es war und was immer er hier abends, nur mit einem Schlafanzug bekleidet, im Regent’s Park tat, es hätte mir egal sein sollen. Doch es konnte mir nicht egal sein. Denn gerade, als ich die Bank passiert hatte, sprach mich der Mann an. Mit meinem Namen.

      Ich blieb wie angewurzelt stehen und drehte mich langsam um. Erst jetzt sah ich in sein Gesicht. Und ich erschrak, wie noch nie zuvor in meinem Leben.

      Wieder überkam mich dieser stechende Kopfschmerz; doch er war, verglichen mit der Erkenntnis, die mich gerade getroffen hatte, sekundär. Dort auf der Bank, mich mit einem finsteren Blick aus schwarzen Augen anstarrend, saß Mister Judd. Lucas Judd, ein siebenundsechzigjähriger, pensionierter Bankkaufmann. Ein Mann, dem ich vor knapp zwei Jahren zuletzt begegnet war; als Patient auf meiner Station. Und ich war dabei gewesen, als der Oberarzt ihm das weiße Laken über das Gesicht gezogen hatte.

      III.

      Der Mann war tot! Lucas Judd war tot! Und nun saß er dort auf der Bank, trug, wie ich mich jetzt erinnerte, den blaugrau gestreiften Pyjama von damals, und starrte mich an.

      »Setz dich!«, sagte er fordernd mit einer rauen, dunklen Stimme, die wenig mit dem alten Mann aus meiner Erinnerung gemein hatte.

      Instinktiv wollte ich weglaufen. Doch ich konnte nicht. Meine Beine versagten mir ihren Dienst; genauer gesagt, taten sie, was sie wollten. Oder was Mister Judd wollte. Wie in Trance leistete ich folge, setzte mich neben ihn auf die feuchte Bank. Ich konnte mein Blut in meinen Ohren rauschen hören. Mein Puls sprengte sicher gerade alle Rekorde. Ich zitterte am ganzen Körper und wagte es nicht, den Mann anzusehen.

      »Du bist sicher überrascht, mich hier zu treffen, Cara, nicht wahr?«

      Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie er sich etwas nach vorne beugte, um in mein Gesicht zu sehen. Ich spürte seinen stechenden Blick auf mir ruhen. Dann streifte seine Hand meine Wange. Sie war eiskalt.

      »Hat es dir die Sprache verschlagen, mein Kind?«

      Tränen liefen mir vor Panik über mein Gesicht und ich drehte es weg; das einzige, wozu ich gerade körperlich in der Lage war. Ich spürte seinen kalten Atem in meinem Nacken. Es war eine tödliche Kälte.

      »Es ist kein Zufall, dass wir uns hier begegnen, Cara«, sagte Judd ruhig. »Ich habe auf dich gewartet. Und jetzt bist du da.«

      Ich öffnete zögerlich den Mund und fragte mit bebender Stimme: »Was wollen Sie von mir?«

      Er lachte heiser. »Was denkst du? Eine offene Rechnung begleichen, natürlich.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Erinnerst du dich nicht mehr daran, was du mir angetan hast?«

      Ich konnte zwar vor Angst nicht mehr klar denken, aber ich wusste, was er meinte. Oh ja, ich wusste, was ich getan hatte; wozu ich mich hatte hinreißen lassen. Bei ihm und bei so vielen anderen.

      »Ich lag im Sterben, Cara«, begann er zu erklären. »Ich rang mit dem Tod, in deinem Beisein.«

      Judds dürre Hand griff nach meinem Kinn und drehte meinen Kopf in seine Richtung. Er zwang mich, ihn anzusehen. Aber ich wollte das nicht.

      »Sag mir, was du getan hast!«, forderte er und drückte nun mit seiner Hand mein Gesicht zusammen. Seine langen Fingernägel bohrten sich in meine Wangen.

      Ich blinzelte und sah in die schwarze Leere seiner toten Augen.

      »Sag es!«

      Meine Kehle schnürte sich mir zusammen; wahrhaftig. »Ich…« begann ich zögerlich, doch je mehr ich mich dagegen sträubte, seiner Aufforderung nachzukommen und ihm mein dunkelstes Geheimnis zu enthüllen, desto weniger Luft bekam ich.

      »Ich lag bereits im Koma, nicht wahr?«, sagte Judd scharf. »Du glaubtest, es wäre schon vorbei mit mir, richtig?«

      Ich nickte hektisch.

      »Und dann, was hast du dann getan?«

      Die Tränen liefen in Sturzbächen über mein Gesicht und Judds Hand, die meinen Kopf nach wie vor in seinem unnachgiebigen Griff hielt.

      »Ich… habe Ihnen ein Medikament gegeben. Um Sie von Ihren Schmerzen zu erlösen.«

      »Du hast mich umgebracht Cara. Das ist es, was du getan hast! Mich umgebracht.« Er seufzte und fügte dann hinzu: »Aber das war nicht alles, nicht wahr? Du hast in diesem Moment auch etwa zu mir gesagt.«

      »Ich habe Ihnen etwas zugeflüstert«, entgegnete ich krächzend und nach Luft schnappend. Durch den Schleier einer nahenden Ohnmacht konnte ich sein Nicken erkennen.

      »Und was genau war es, was du geflüstert hast? Wie lauteten deine Worte?«

      Mit letzter Kraft antwortete ich ihm: »Dich hat der Teufel schon in seinen Krallen. Ich wünsche ihm viel Spaß mit dir.«

      »Sieh mich an!«, befahl Judd mir laut und voller Zorn. »Schau mir in die Augen!«

      Zaghaft öffnete ich meine durch die Tränen verquollenen Augen und sah ihn an; sah in seine tiefschwarzen Augen. Sie schienen mit einem Mal immer größer zu werden. Und so war es auch: Seine Augenhöhlen wurden tiefer und tiefer. Ich wollte mich angewidert abwenden, doch seine knöchrige, kalte Hand hielt mich fest und zwang mich, eine grauenerregende Metamorphose unmittelbar mitzuerleben: Ich musste mit ansehen, wie seine Haut immer ledriger wurde. Sein Pyjama zersetzte sich an seinem Körper, als würde er im Zeitraffer vermodern. Darunter kam sein Brustkorb zum Vorschein. Die Brustwirbel traten durch die Haut immer mehr hervor, bis sie schließlich nur noch ein nacktes, blutiges und mit anhaftenden Fleischfetzen verklebtes Skelett waren. Es stank nach verfaultem Fleisch; so stark, dass ich neuerlich fürchtete, zu ersticken. Seine Hand, die mein Gesicht im festen Griff gehalten hatte, verwandelte sich in blutige Knochen und ließ dann von mir ab.

      Ich spürte, wie sich meine körperliche Starre löste. Ich sprang sofort auf, wollte nur noch fort rennen. Aber aus irgendeinem Grund blieb ich nach nur wenigen Schritten unversehens stehen und drehte mich, schwer atmend um. Von Mister Judd war nichts wirklich vertrautes, menschliches, mehr übrig: Er war zu einem buchstäblichen Knochengerüst verkommen. Vor Entsetzen erstarrt, legte ich die Hände vor den Mund, als ich sah, dass dieses Etwas aber keineswegs leblos war: Die letzten Reste an Stoff der Pyjamahose fielen zu Boden, als es sich erhob und auf mich zu wankte.

      »Der Teufel hat seinen Spaß mit mir gehabt«, drang eine dumpfe Stimme aus dem geöffneten Rachen des leeren Schädels. Sie klang, als wäre ich unter Wasser und würde sie an der Oberfläche mit mir sprechen hören.

      »Und jetzt wird er ihn mit dir haben, Cara!«

      Es trat langsam und mit wankenden Schritten auf mich zu. Ich wich zurück, stieß gegen die steinerne Wegbegrenzung, taumelte und fiel. Ich landete rückwärts auf dem Rasen, mein Kopf schlug auf dem aufgeweichten Boden auf. Meine Augen wurden schwer und ich schloss sie für ein paar Sekunden. Ich hoffte auf eine Ohnmacht, die mich von all dem, was gerade passierte, entfernen würde. Aber sie blieb aus; es gab keine Gnade für mich. Ich hatte sie wohl auch nicht verdient.

      Als ich meine Augen wieder öffnete, blickte ich direkt in zwei gleißend helle Lichter in einer ansonsten vollkommen dunklen Umgebung. Als sie begannen, sich zu bewegen, erkannte ich, dass es zwei dämonische Augen waren, die mich anstarrten. Ein faulig riechender Atem stieg mir in die Nase. Ich spürte zwei Hände, die äußerst schmerzhaft meine Beine umfassten; nein, es schienen Klauen zu sein! Sie bohrten sich durch meine Hose in mein Fleisch. Für den Bruchteil einer Sekunde passierte nichts mehr. Ich hörte nur mein eigenes, keuchendes Atmen.

      Dann