J.P. Conrad

In einer Stunde tot


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über den Rasen, mit großer Kraft und Schnelligkeit. Panisch streckte ich meine Arme aus, versuchte mit den Händen im Boden Halt zu finden. Doch er war aufgeweicht und gab sofort nach. Meine Tasche schleuderte davon. Ich öffnete meinen Mund, wollte laut schreien, vor Panik und Schmerz. Doch ich blieb stumm. Kein Ton drang aus meiner Kehle. Ich war mit meiner ganzen Angst wehrlos in meinem eigenen Körper gefangen.

      Immer weiter wurde ich über den Boden geschleift. Es war, als ob ein wildes Tier mich als seine Beute gepackt hätte und nun davon galoppierte. Gras, Büsche und andere niedrig stehenden Pflanzen klatschten durch mein Gesicht und rissen schmerzhafte Wunden hinein. Ich hatte jetzt nur noch die eine Gewissheit: Ich würde sterben; jetzt und hier. Vor Angst. Und ich sehnte mich tatsächlich nach dieser Erlösung!

      Mit einem Mal ließ das Etwas von mir ab. Ich klatschte wie ein lebloser Sack auf das Gras. Es dauerte sicher ein paar Minuten, bis ich wieder wagte, meinen Kopf zu heben. Und ich bereute es sofort: Ich war jetzt am Teich, der sich im südwestlichen Teil des Parks befand. Im Schein der Lichter, die seine Oberfläche von der anderen Seite des Ufers aus erleuchteten, sah ich, dass sich das Wasser rot verfärbt hatte. Und es dampfte. Weiße Schwaden stiegen auf, als ob der Teich kochen würde. Die Köpfe dunkler Kreaturen durchbrachen langsam die Wasseroberfläche. Erst nur wenige, dann immer mehr. Dutzende. Hunderte. Die Gestalten erhoben sich träge aus dem Wasser. Ihre schwarzen Schatten hatten die Umrisse von Menschen, aber es konnten keine Menschen sein; nicht mehr das, wusste ich. Zerfetzte Kleidung hing an ihren dürren, abgemagerten Körpern und das Blut tropfte von ihnen, als sie mit merkwürdigen Verrenkungen aus dem Wasser ans Ufer kletterten. Sie bewegten sich genau in meine Richtung. Es waren so viele... Waren es wirklich so viele gewesen, in den fünfzehn Jahren?

      Ich wollte fliehen, konnte es aber nicht. Meine mit tiefen, blutenden Striemen übersäten Beine versagten mir den Dienst; sie bewegten sich keinen Millimeter mehr von der Stelle. Ich trommelte mit den Fäusten auf sie ein, als ob ich sie damit hätte aufwecken wollen. Aber ich spürte meine Schläge gar nicht erst auf ihnen. Doch das war nun sowieso egal: Die Kreaturen, die ich jetzt als die verwesten Überreste menschlichen Lebens erkannte, kamen immer näher. Ich schloss die Augen.

      »Gleich ist es vorbei, Cara. Dann wird alles gut!«, versuchte ich mir einzureden. In derselben Sekunde wurde ich schon von der ersten Kreatur gepackt. Sie röchelte, geiferte und ich hörte jede schabende und knackende Bewegung ihrer Knochen, als sie begann, an mir zu zerren. Immer mehr kamen dazu und taten es ihr gleich. Ich spürte sie nicht, aber ich nahm sie deutlich wahr. Als ich meine Augen öffnete, sah ich, was sie mit mir anstellten: Die Kreaturen zogen an meinen Beinen, sie rissen daran, verdrehten sie, bissen in sie hinein. Ich musste hilflos dabei zusehen, wie sie mir meine unteren Extremitäten vollständig ausrissen und wie tollwütige Tiere darüber herfielen. Sie gruben ihre Mäuler wie von Sinnen hinein, rissen Fleischfetzen heraus und verzehrten sie schmatzend.

      »Das alles muss doch ein Ende haben!«, flehte ich stumm. Doch weder ließen sie von mir ab, noch taten sie etwas anderes, als meine Beine aufzufressen. Aus irgendeinem Grund verschonten sie den Rest von mir, so dass ich gezwungen war, alles mitzuerleben.

      Dann, nachdem sie auch den letzten Rest von meinen Beinen verschlungen hatten, zogen sich die Kreaturen langsam wieder zurück. Wie eine Schwarmintelligenz liefen sie rückwärts wieder in den Teich, aus dem sie empor gestiegen waren. Irgendwann war keine von ihnen mehr zu sehen. Das Blut färbte sich wieder zu Wasser und die Dampfschwaden verschwanden. Erst jetzt konnte ich die Augen schließen.

      IV.

      Als ich aufwachte, erkannte ich mir vertraute Strukturen. Ein schmales, helles Licht, Knöpfe und Kabel. Aber aus dieser Perspektive hatte ich sie noch nie gesehen, was mich beunruhigte. Ich wusste sofort, wo ich war und von dieser Erkenntnis gepackt, versuchte ich, mich aufzusetzen. Aber es gelang mir nicht. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch den Schädel.

      Dann hörte ich wieder meinen Namen.

      »Cara!«

      Diesmal klang die Stimme ganz nah und sehr sanft. Und ich erkannte sie.

      Jemand beugte sich über mich. Nachdem sich mein verschwommener Blick fokussiert hatte, sah ich in das unsicher lächelnde Gesicht von David.

      »Was… ist passiert?«, fragte ich und spürte, wie unglaublich heiser und fragil meine Stimme klang. Mein Mund fühlte sich extrem trocken an und ich spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

      »Du bist endlich wieder bei uns!«, erklärte David, in dessen Stimme ich Erleichterung und auch eine gewisse Unsicherheit spüren konnte. »Ich konnte es kaum glauben, als sie mich anriefen! Woran erinnerst du dich?«

      Ich überlegte, soweit mir das in meinem offensichtlich recht desolaten Zustand möglich war. Kleine Erinnerungsfetzten, wie die Bruchstücke eines langsam verblassenden Traums, blitzten vor meinem geistigen Auge auf. Da war ein Kürbis, leuchtend orange und mit einer lachenden Fratze. Halloween. Ja genau, es war ja Halloween! Ich hatte meine Arbeit beendet und war mit David verabredet…

       »Also, was hast du mit mir vor?«, fragte ich gut gelaunt, als wir über den Personalausgang in den Hof traten. »Schlepp mich bloß nicht auf eine Halloween-Party!«

       Er lachte. »Keine Angst, sicher nicht!«

       Ich freute mich wie ein kleines Kind auf den bevorstehenden, gemeinsamen Abend. Es war unsere dritte Verabredung und alle Zeichen standen auf Sex, das spürte ich irgendwie. Und ich hoffte es.

       David klimperte mit den Autoschlüsseln. Auf dem Parkplatz blinkten kurz zwei Lichter rhythmisch auf. Aber sie gehörten nichts zu Davids kleinem Renault. Mit Verwunderung bemerkte ich, dass er die Tür eines anderen Wagens für mich öffnete. Es war ein weißer Kleinbus.

       »Nanu, neues Auto?«, fragte ich und kletterte auf den Beifahrersitz.

       »Nur geliehen. Meiner ist in der Werkstatt«, erklärte David, schloss die Tür und stieg dann auf der Fahrerseite ein. »Der hier gehört meiner Schwester.«

       »Du hast eine Schwester?«, fragte ich erstaunt. Ich kannte ihn bisher doch noch recht wenig, wie ich feststellte.

       »Ja, sogar zwei.« David hob seinen Hintern an und zog seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Er klappte sie auf und zeigte mir ein Foto. Darauf waren er und eine blonde Frau mit Ponyfrisur, Zungenpiercing und Flashtunneln zu sehen, die ihre Arme und die Schultern des jeweils anderen gelegt hatten. Zu ihren Füßen saß ein kleiner Mops.

       »Das ist Emily. Ich sehe sie leider im Moment nicht so oft. Sie macht ein Praktikum bei Guinness in Dublin. Aber jetzt ist sie hier, um mit ihrem Freund und ein paar Kumpels Halloween zu feiern.« Er steckte die Geldbörse wieder ein und dann den Schlüssel ins Zündschloss. Aber er drehte ihn nicht um. Stattdessen sah er mich an und lächelte. Ich lächelte zurück. Und dann passierte es: Wir küssten uns. Nur kurz und auch nicht sehr intensiv. Aber die Saat für mehr war gesät. Wir sagten erst einmal nichts und David startete den Wagen.

       Wir hatten die Ausfahrt noch nicht verlassen, als ich in meiner Handtasche nach meinem Lippenstift kramte. Als ich mich dabei etwas von David abwandte, spürte ich mit einem Mal seinen wohlig warmen Atem an meinem Hals. Dann folgte ein zärtlicher Kuss in meinen Nacken. Ich schloss die Augen und lächelte.

      V.

      »Ich war schuld«, sagte David heiser und sah verschämt weg. »Ich hatte den verdammten Fischlaster nicht gesehen. Er war aber auch viel zu schnell unterwegs gewesen.«

      »Was…?«, setzte ich zu einer Frage an. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, was nach Davids Kuss in meinen Nacken passiert war.

      »Er hat den Kleinbus mit voller Wucht erwischt. Mir ist nichts weiter passiert, außer einer gebrochenen Rippe. Aber du…« Er schluckte. »Du lagst im Koma.«

      Ich starrte gedankenversunken zur Decke.