Dieter Hentzschel

Achterbahn in die Hölle...


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die stakkatoartig Probleme aufwarfen. Wie sollte es weitergehen? Was mußte er alles für Behördengänge erledigen? Sollte er raus aus der großen Dreizimmerwohnung? Er mußte sich selbst versorgen. Kochen, waschen, Einkäufe tätigen. Und dann plötzlich der entscheidende Stoß. Er war allein!

      Er döste ein, wurde immer wieder aus kurzen Schlafphasen gerissen. Sein Hals schmerzte. Als er am Morgen aufstand fühlte er sich gerädert. Es war erst sechs Uhr. Erste Dämmerung als er die Jalousien hochzog. Und doch war es besser wach zu sein, die drückenden Nachtgedanken hinter sich zu lassen. In der Küche suchte er die Dose mit den Teebeuteln. In den letzten Tagen vor der Beerdigung hatte er wie in Trance ein paar Lebens-mittel gekauft. Die Metzgerei in der seine Frau eingekauft hatte, bot warmes Mittagessen an.

      Der heiße Tee tat ihm gut. Er saß am Tisch in der Küche. Wieder stürzten die Gedanken auf ihn ein. Die letzten Monate. Als seine Frau erfahren hatte, dass sie Krebs hatte. Einen schnell wachsenden Krebs. Eine Träne lief ihm aus dem linken Auge. Sie war zwei Jahre jünger als er. Gewesen, dachte er. Das ist ungerecht! Aber was ist schon gerecht? Das Leben hält für jeden sein Schicksal bereit. Es läßt sich nicht aufhalten. Nichts verändert sich durch den Tod eines Menschen. Es war nur eine Frage des Verfalls. Zellen und Organe hatten ihren Dienst getan, standen nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung.

      Drei Monate später.

      Ferdinand hat sich eingerichtet. Er versuchte nicht nachzudenken, nicht zu grübeln. Einen großer Teil seiner Zeit ist er damit beschäftigt den Alltag zu bewältigen. Einkaufen, staubsaugen, Wäsche waschen, Essen zubereiten, die Kleidung einigermaßen in Ordnung halten. Er will nicht, dass die Nachbarn glauben es ginge bergab mit ihm. Eine Nachbarsfrau hat mehrmals gefragt ob sie ihm behilflich sein kann. Er hat abgelehnt. Nein, er komme schon zurecht. Die Abende verbringt er vor dem Fernseher, geht meistens früh ins Bett. Er fühlte sich wieder besser, auch wenn er seine Partnerin vermißte.

      Im darauffolgenden Sommer, sein siebenundsechzigster Geburtstag war gerade vorbei, beschloß er eine Reise zu unternehmen. Einen Tag lang kramte er in einem Karton mit alten Fotos. Dann stieß er auf das Schwarzweissbild das er gesucht hatte. Er mußte unwillkürlich lachen als er sich in voller Marschausrüstung bei der Bundeswehr sah. Der lächerliche Blätterkranz auf seinem Helm. Tarnung war das. Infanterie. Sein Gesicht war schwarz bemalt. Neben ihm Oskar Sebald. Sah genauso lächerlich aus. Sie hatten sich gut verstanden in dieser Zeit.

      Gemeinsam ließ sich die eine oder andere Schikane besser ertragen. Dieses Bild hatte er gesucht. Denn vor wenigen Tagen hatte er von Oskar geträumt. Verrückt, dachte er. Da vergehen fast fünfzig Jahre und dann gräbt das Unterbewußtsein im Traum diese Erinnerung aus. Oskar stammte aus Hamburg. Dort wollte Ferdinand schon immer mal hin. Die großen Schiffe sehen. Das Hier und Jetzt würde ihn eine Weile verschmerzen können. Sein Geld reichte aus. Er selbst hatte keinen Computer, kannte sich damit auch nicht aus. Aber er wußte, dass man über das Internet Menschen suchen konnte. Ihren Aufenthaltsort.

      An einem der nächsten Tage bat er seinen Nachbarn, derjenige der auch auf der Beerdigung war, ihm den Ge-

      fallen zu tun. Die Suche ergab aber keinen Treffer. Normalerweise ist er dann auch nicht mehr in Deutschland sagte sein Nachbar. Denn zumindest im bundesweiten Telefonverzeichnis müßte er zu finden sein, resümierte sein Nachbar. Was machts?, dachte Ferdinand. Ich seh mir trotzdem Hamburg an. Und vielleicht kann ich im dortigen Einwohnermeldeamt mehr erfahren. Er traf Reisevorbereitungen. Seine Frau hatte noch vor ein paar Jahren einen mittelgroßen Rollkoffer gekauft. Er würde den Zug nehmen. Einmal quer durch Deutschland fahren, das war sein Gedanke bei diesem Transportmittel. Es war teurer als Fliegen, aber gemütlicher. Er hatte ohnehin kein Auto um damit zum Flughafen zu fahren. Parken war dort sehr teuer, das wußte er. Vor einem halben Jahr hatte er seinen Wagen verkauft. Er wohnte zentral und alle Geschäfte die er brauchte waren in der Nähe. Außerdem war das Fahrzeug auch schon über fünfzehn Jahre alt. Kostete nur Reparaturen, Versicherung und Steuer.

      Als ihn der Beamte am Fahrkartenschalter fragte ob er Hin-und Rückfahrt wünsche, überlegte Ferdinand einen Augenblick und erwiderte dann, dass er erst mal einfache Fahrt möchte. Das würde ihn dann aber teurer kommen meinte der Beamte. Ferdinand zuckte die Schultern. Er wollte keinen Zeitdruck. Wer weiß wie gut ihm Hamburg gefiel. Und eine Hin-und Rückfahrkarte galt nur eine bestimmte Zeitspanne.

      Bevor er ein paar Tage später seine Wohnung abschloß gab er den Nachbarn Bescheid, dass er für eine unbe-

      stimmte Zeit verreise. Vielleicht wäre er aber auch schon nächste Woche wieder da. Sie wünschten ihm gute Reise. Ferdinand, hatte fünfhundert Euro in bar dabei, falls er mehr brauchte konnte er ja seine Bankkarte benutzen. Der öffentliche Nahverkehr sei in Hamburg sehr gut, sagte sein Nachbar. Gut ausgebautes S-Bahnnetz. Das Foto mit Oskar Sebald legte er ganz unten in den Koffer. Für die nächsten Tage war schönstes Sommerwetter angesagt.

      Da Ferdinand im Süden der Republik lebte wurde es eine Bahnfahrt von annähernd sieben Stunden. Am Bahnhof hatte er sich mit einer großen Tageszeitung versorgt, doch er rührte sie während der ganzen Fahrt nicht an. In einem ICE sitzt man ja nicht mehr in geschloßenen Abteilen sondern hat einen ganzen Wagen voller Mitpassagiere. Und da wurde es nicht langweilig. Es herrschte von Bahnhof zu Bahnhof ein ständiges Kommen und Gehen. Immer neue Gesichter die er studieren konnte. Er saß in Fahrtrichtung auf der rechten Seite des Zuges und hatte einen Platz mit Tisch vor sich. Bei Abfahrt des Zuges war der Platz neben ihm frei aber ihm gegenüber saßen zwei ältere Damen. Sie stiegen nach ihm ein und er grüßte sie freundlich.

      "Ach Henriette", sagte die Dame mit den leicht violetten Haaren, "ich freue mich ja schon so auf die Insel."

      Aha, die Damen machten Urlaub auf einer Nordseeinsel. Ferdinand sah möglichst unbeteiligt aus dem Fenster, vor dem die Landschaft nur so vorbeiflog. So konnte er unauffällig das Gespräch belauschen. Und er hatte gar kein schlechtes Gewissen dabei. Schon jetzt beglückwünschte er sich zu seinem Entschluß zu verreisen. Wie oft verbrachte er die Vormittage zuhause am Küchentisch und brütete vor sich hin. Und jetzt in diesem Zug verflog die Zeit. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt die Damen anzusprechen, aber dann taten sie es. In sein gespieltes Desinteresse erklang plötzlich eine Stimme: "Wohin reisen Sie?"

      Er sah sein Gegenüber an und erwiderte etwas holprig:

      "Ach, ich fahre nach Hamburg. Soll eine schöne Stadt sein."

      "Ja, ja kann ich da nur sagen", entgegnete die Blondierte.

      "Ich war da früher mit meinem Mann. Die großen Schiffe und der Hafen. Und die Reeperbahn..."

      "Wie? Da waren Sie auch", sagte Ferdinand.

      Etwas verlegen kichernd antwortete sein Gegenüber: "Nur zum Gucken..."

      "Ach so."

      Fürs erste schien die Konservation erschöpft und die beiden Damen wandten sich wieder ihrem Gespräch zu.

      So, dachte Ferdinand. Also zumindest die Eine ist Witwe.

      Ferdinand blickte den Mittelgang entlang und sah einen Servicewagen auf sich zukommen. Als der Mann auf Höhe seiner Sitzreihe angekommen war, hob Ferdinand die Hand und sagte: "Haben Sie vielleicht auch Bier?"

      Der Mann kramte in seinem fahrbaren Untersatz und streckte Ferdinand dann eine Flasche Bier und einen Pappbecher hin. "Macht dreifünfzig."

      Ferdinand beäugte misstrauische die kleine Flasche und meinte in Richtung des Bahnbediensteten - er versuchte es ironisch klingen zu lassen: "Das ist wohl für Liliputaner?"

      "Was anderes habe ich leider nicht", war die lakonische Antwort. Ferdinand zückte seine Geldbörse und zahlte. Er schenkte sich ein paar Schlucke in den Becher und während er trank und die beiden Damen über den Rand des Bechers ansah sagte er etwas verlegen: "Prost."

      Die Violette meinte: "Nein, also so früh könnte ich noch keinen Alkohol trinken."

      Er beschloß, darauf lieber nicht zu antworten, denn er mußte ja mit seinen beiden Reisegefährtinnen bis Ham-

      burg auskommen.

      Knapp die Hälfte der Strecke war geschafft,