Alina gebeten, mir wieder einmal zur Seite zu stehen, bei einem Fall, der mir Kopfschmerzen bereitete. Alina schlug das Lokal vor und wir hatten nichts dagegen, auswärts zu speisen. Mit „auswärts“ meine ich die Heimatstadt meiner Freundin. Ein Münchner oder gar ein Berliner würde nicht von einer „Stadt“ sprechen, aber für oberpfälzische Verhältnisse ... Vielleicht war mir eine Verabredung „in der Fremde“ sogar lieber, denn, 56 hin oder her, ein wenig sicherer fühlte ich mich bei solchen Verabredungen, wenn sie woanders stattfanden. Wer weiß, was daheim die Leute alles reden würden? Aber musste es ausgerechnet ein Schwulen-Lokal sein?
Das mit meinen Kopfschmerzen meine ich wortwörtlich.
Und damit nicht genug: Ich somatisierte außerdem mit Rückenverspannungen und Kniebeschwerden – und fühlte mich gar nicht mehr wie Mitte 50! Hing das mit dem Fall zusammen?
Dass ich überhaupt auf solche Ideen kam und mir solche Begriffe wie „Somatisierung“ so locker über die Lippen gehen, hängt natürlich mit ihr zusammen, „meiner“ Psychologin.
Und endlich tauchte sie auf. Sie trug wieder die auffallende Gürtelschnalle, die den Blick auf ihre schlanke Taille lenkte. Mit Mitte 40 ist sie noch schlank! Warten wir mal ihre Wechseljahre ab!
Wir Männer standen zur Begrüßung beide auf und ließen uns nacheinander umarmen. Der alte Rosenverkäufer schaute noch einmal herüber und wusste nun gar nicht mehr, wie er dran war. Ich winkte ihn schnell heran und nahm ihm eine Rose für Alina ab. Dass ich daran nicht schon vorher gedacht hatte ... Alina schmunzelte und bedankte sich höflich. Vermutlich fand sie es unpassend.
„Ein nettes Lokal haben Sie uns ausgesucht!“, bemerkte ich leicht spöttisch. Das verstärkte ihr Schmunzeln zu einem Grinsen. Man konnte es in ihrem Gesicht lesen, welche Freude sie dabei empfand, so konventionelle Typen wie uns in solche Situationen zu bringen.
„Ja, finde ich auch!“, erwiderte sie und machte keine Anstalten, auf den Kern meiner Feststellung einzugehen. Vermutlich wollte sie keine Homophobie-Diskussion führen.
„Was hat sich da die Tiefenpsychologin wieder dabei gedacht …?“, traute sich Birtele, kess einzuwerfen.
„Ja, das fragt mich mein Mann auch immer, wenn ich hierher gehe“, antwortete sie lachend und dachte offenbar nicht im Traum daran, eine wirkliche Antwort zu geben. Stattdessen sagte sie: „Ich bin sehr gespannt, warum Sie mich heute treffen wollten!“
„Mein Chef braucht doch keinen besonderen Anlass, um sich mit Ihnen zu verabreden!“, setzte Birtele mit einer wohl scherzhaft gedachten Bemerkung und einem unschuldigen Lächeln fort. Das war ganz schön frech! Aber ich wollte gnädig sein und ließ es so stehen. Eigentlich hatte er ja Recht. Seit Jahren schon genoss ich jeden Kontakt mit Alina und redete mir ein, dass dies mit den vielen ungewöhnlichen gemeinsamen Erlebnissen zusammenhängen müsste. Immer wieder kam mir zum Beispiel eine nächtliche Wanderung am Osser in den Sinn, bei der sie sich ängstlich an mich schmiegte. Ich muss hinzufügen, dass wir dort dienstlich unterwegs waren! Und es ist auch nichts weiter passiert!
Dem Birtele bin ich nicht böse, er darf ruhig solche Spitzen abschießen. Ich gehe ja auch nicht gerade zimperlich mit ihm um. Mit meinem „besonderen Charme“ ...
„Also, nun rücken Sie doch endlich mal raus mit Ihrem neuen Fall!“, drängte Alina. Scheinbar hatte sie es eilig. Vermutlich hatte sie ihrem Bernd versprochen, dass sie bald wieder daheim sein würde. Birtele meint, ihr Ehemann sei eifersüchtig auf unsere Beziehung.
„Ach nun“, erklärte ich, „da ist halt einer mit dem Auto gegen ein Bushäuschen gefahren und dabei ums Leben gekommen.“
„Aha. Das hört sich leider wirklich tragisch an, aber nicht psychologisch oder kriminalistisch besonders kompliziert!“, reagierte Alina fast ein wenig enttäuscht.
„Tödlich für den war, dass der Airbag nicht aufging und dass sich unglücklicherweise eine Holzlatte in seinen Hals bohrte. Der Aufprall an sich war offenbar gar nicht so heftig.“
Alina verzog ihr Gesicht. Sie stellte sich wohl die Szene vor.
Ich sollte zum besseren Verständnis ergänzen, dass Bushäuschen auf dem Oberpfälzer Land immer aus Holz gebaut sind. Und besonders stabil scheinen sie auch nicht zu sein – zumindest nach etlichen Jahren ostbayerischen Wetters. Dieser Bretterhaufen jedenfalls war nach dem Unfall nicht mehr als Bushäuschen zu erkennen und ich fragte mich als Laie, ob denn überhaupt ein Airbag bei so wenig Widerstand ausgelöst wird. Fraglich war außerdem, ob bei einem ausgelösten Airbag die Holzlatte nicht genauso ihren Weg zum Hals des Verunfallten gefunden hätte.
„Und Sie sollen jetzt den Unfall wegen des defekten Airbags untersuchen?“, fragte mich Alina.
„Ja. Allein schon wegen der Versicherungen. Der von denen beauftragte Gutachter – wer weiß, aus welchem Hut sie den gezaubert hatten - meinte, der Airbag sei manipuliert gewesen.“ Aber dann ließ ich doch die Katze aus dem Sack: „Ein kriminalistisches Schmankerl ist schon dabei: Der getötete Fahrer war in einer Firma beschäftigt, die Airbags herstellt und einbaut!“
„Aha, da wird’s schon interessanter“, antwortete Alina. „Aber das ist immer noch nichts, was eine Psychotherapeutin scharf macht!“
Birtele erschrak demonstrativ, rutschte mit seinem Stuhl hinter die Stahl-Säule neben unserem Tisch und schaute sich nach dem alten Rosenverkäufer um. Grinsend sagte er: „Nicht so laut, sonst kommt der Alte wieder!“
„Sie haben heute aber Ausdrücke!“, gab auch ich Alina zurück und schüttelte spaßeshalber den Kopf.
„Nun ja, wenn Sie sich alles aus der Nase ziehen lassen!“, rechtfertigte sie ihre Sprachwahl.
„Natürlich. Ja. Also, wir hofften ...“, sprang mir Birtele bei, „Sie würden sich einmal mit den Angehörigen unterhalten. Es ist eine vom Schicksal gebeutelte Familie. Etwas für eine Psychologin.“
„Ja“, erläuterte ich, „es wäre schön, wenn Sie dabei wären. Der Verunfallte, ein gewisser Fred Plose, war schon viele Jahre Witwer. Er lebte mit seiner 18-jährigen Tochter zusammen. Ein jüngerer Bruder von ihm arbeitet auch in dieser Airbag-Firma. Die Hinterbliebenen sind natürlich tief betroffen über die erneute Tragödie, besonders die Tochter: Nach einer Oma und der Mutter, beide Todesfälle vor etwa 15 Jahren und einem Opa, der irgendwann danach starb, verlor sie nun ja auch den Vater.“
Ich bin da immer ganz offen. Zwischen Alina und mir gibt es ein Übereinkommen völliger Verschwiegenheit. Also anderen gegenüber! Wir untereinander – und da beziehe ich Birtele mit ein – vertrauen uns alles an. Freilich, manchmal kommt Alina daher mit einer „Schweigepflichtentbindung“, wenn es um einen ihrer Patienten geht. Nun, eigentlich sagt sie es nur, dass sie sich eine solche hat geben lassen. Vielleicht stimmt das gar nicht und sie will nur seriös erscheinen.
„Und da soll ich mit denen sprechen?“
„Nun, von Frau zu Frau, also mit der 18-Jährigen …“, erläuterte ich. „Die scheint mir sehr labil zu sein. Und dem Birtele kann ich bei jungen Frauen nicht trauen ...“
Birtele warf mir einen bösen Blick zu. Er hat da wohl keinen Humor. Vermutlich verstand er meine Anspielung auf seine „Affäre“ mit einer Tatverdächtigen. Aber damals hatte er zum Glück noch die Kurve gekriegt.
Alina schmunzelte, legte ihre Hand auf Birteles Arm und und flüsterte ihm zu: „Der Chef traut sich selbst ja auch nicht ...“.
So konnte sie auch meinem Assistenten ein Lächeln entlocken. Mein Lächeln aber gefror ein, denn ich ahnte, wie Recht Alina hatte mit ihrer lustig gemeinten Bemerkung. Irgendetwas war an diesem Fall dran, was mir ganz persönliche Kopfschmerzen bereitete.
Alina schaute mich irritiert an: „Alles okay?“ Und sie spürte, dass ihr Scherz für mich nicht nur ein Scherz war. Sie wartete aber keine Antwort ab. „Natürlich helfe ich Ihnen gerne!“, sagte sie. Und es war uns allen recht, dass die Bedienung unser Gespräch unterbrach und wir zum gemütlichen Teil übergehen konnten.
Ein paar Tage später