Helfried Stockhofe

Familienlieben


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und ihr Onkel waren anwesend. Alina kondolierte und stellte sich noch im Hauseingang als psychologische Beraterin der Polizei vor.

      „Wir brauchen aber keinen Seelsorger, wir kommen schon klar!“, sagte Jan Plose, der Bruder des Verunfallten. Er schien etwas erschrocken zu sein.

      „Es ist gut, wenn Sie sich gegenseitig helfen können“, antwortete Alina beim Hineingehen. Und dass sie beim Betreten des Wohnraums über eine Türschwelle stolperte, nahm sie gerne als Anlass zur Ablenkung. Vielleicht hat die geschickte Psychologin sogar absichtlich … oder unbewusst … Egal, jedenfalls ermöglichte ihr der Stolperer ein „Hoppla!“ und Jan konnte als „Retter“ mit einer letztlich aber unnötigen Auffangbewegung seine Hilfsbereitschaft zeigen. Alina lächelte verlegen, reagierte aber wie gewohnt spontan: „Da sehen Sie, wer Hilfe braucht!“ Damit war das Eis gebrochen.

      Jan erzählte etwas über die Türschwellen, alte Häuser und Stolperer und wurde dabei plötzlich wieder recht ernst. Und als Birtele einen Scherz probierte - irgendetwas mit Airbag beim Stolpern - waren wir fast ungewollt beim Thema.

      „Dass gerade Ihrem Bruder so etwas mit dem Airbag passiert ...“, sinnierte Alina. Dann ging sie gleich in die Vollen: „Da machen Sie sich doch sicher so Ihre Gedanken?“ Die Tochter verstand sofort die Anspielung. Sie begann zu weinen!

      „Hab ich´s dir nicht gesagt“, wandte sie sich an ihren Onkel, „das ist gar nicht so eine absurde Idee. Der hat sich vielleicht wirklich umgebracht. Die Polizei glaubt das auch.“

      „Nein, nein, so ist das nicht“, ruderte Alina zurück, „das ist eine reine Routinespekulation. Wir Psychologen denken schnell mal an so etwas. Aber: Könnte es denn einen Grund dafür gegeben haben?“ Zurückrudern und gleich wieder wenden!

      „Siehst du“, wurde die Tochter wieder aufgeregt, „die Psychologin meint das auch!“

      „Nein, nein“, versicherte Alina . „Nur mal theoretisch.“

      Theoretisch, so eine Formulierung! Aber die Tochter schien sich zu beruhigen. Sie schnäuzte sich.

      Jan unterbrach und bat uns an den Wohnzimmertisch: „Darf ich Ihnen etwas anbieten, einen Kaffee oder ein Wasser?“

      Er musste schließlich in die Küche und beides bringen. Wir nutzten seine Abwesenheit, um mit seiner Nichte weiter zu reden.

      „Er war halt immer so depressiv“, erklärte uns schließlich Vanessa.

      „Hat er denn etwas angedeutet?“, hakte Alina nach.

      „Nein, nein, mein Papa war immer verschlossen. Wenn man ihn gefragt hat, dann ging es ihm gut. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Ich hab ihm nie geglaubt, dass es ihm gut geht.“

      „Der hat wohl nie den Tod der Mama verkraftet“, sagte der hereinkommende Jan zu seiner Nichte. Jan hatte wohl seine Kaffeezubereitung unterbrochen, um nichts von dem Gespräch zu versäumen. Dann zog er sich wieder zurück. Vanessa senkte den Kopf.

      Wir schwiegen einige Zeit und ich stand auf und schaute mir die Fotos der Verstorbenen an, die auf einer kleinen Kommode standen. Das Hochzeitsfoto, auf dem beide nicht ganz glücklich dreinblickten, wurde flankiert von jeweils einem Foto von den Großeltern. Ich zeigte es Alina. In der Küche ratterte die Kaffeemaschine.

      „Die Großeltern leben auch nicht mehr?“, fragte Alina eher rhetorisch. Das hätte sie nicht fragen dürfen! Vanessa begann gleich wieder zu weinen – was Jan draußen in der Küche sofort registrierte und wieder hereinkam: “Die Oma ist kurz vor Vanessas Mutter verstorben“, stellte er eher nüchtern fest. Den Opa erwähnte er nicht. Vanessa schluchzte und schnäuzte sich.

      Jan ging zurück in die Küche und holte die Getränke. Er stellte sie auf den Tisch und nahm die weinende Vanessa in den Arm. „Aber dein Papa hat sich nichts angetan, das kannst du mir glauben!“

      Die beiden schienen eine gute Beziehung zu haben.

      „Ich bin so froh, dass ich wenigstens dich noch hab!“, erwiderte die Nichte ihrem Onkel. „Du bist meine ganze Familie!“ Und an Alina gewandt: „Mein Onkel hatte kürzlich auch einen Airbag-Unfall!“

      „Ja, aber“, ergänzte Plose, „es war nicht der Rede wert.“

      Von diesem Unfall wusste ich noch nichts. Bei der ersten kurzen Befragung hatte mir Jan Plose darüber nichts erzählt. Zwei Airbag-Unfälle hintereinander sind schon sehr verdächtig!

      „Aber Sie haben es gut überstanden?“, fragte ich nach.

      „Ach, das war ganz anders als bei Fred, meinem Bruder, es war nicht schlimm. Bei meinem Auto löste sich der Airbag aus, als ich die Tür zuschlug. Leider saß ich drin ...“

      „Du bist gut!“, sagte die Nichte, „Immerhin musstest du deswegen ins Krankenhaus!“

      „Ja, aber es war nur ein Kratzer!“

      „Nur ein Kratzer?“ Die Nichte begann wieder zu weinen.

      Plose warf mir einen Blick zu, mit dem er andeuten wollte, dass es wirklich nicht so schlimm gewesen sei und die junge Frau mächtig übertreibe.

      Die Psychologin Alina erzählte mir danach, dass wohl jede geringe Gefahr, wieder eine wichtige Bezugsperson zu verlieren, Ängste bei der 18-Jährigen auslösen würde. Also habe wohl nicht nur der Ehemann den Tod seiner Frau schwer verkraftet, sondern auch die Tochter sehr unter dem Verlust der Mutter gelitten. Das sei natürlich verständlich, weil die Tochter damals erst drei Jahre alt gewesen sei und der Vater wohl schon immer recht instabil war. Außerdem war kurz vor der Mutter auch die Oma gestorben. Umso bedeutsamer sei seitdem der Onkel gewesen.

      Das verstand ich sehr gut und ich war richtig verwundert, dass mich Alina nicht gleich auf die Parallele zu meiner eigenen Familiengeschichte aufmerksam machte. Doch es konnte schon sein, dass sie in diesem Moment nicht daran dachte. Vielleicht, weil ich schon sechs war als meine Mutter starb. Mir kam später auch in den Sinn, dass ich womöglich wegen dieser Parallele meine Freundin Alina mit diesem Fall konfrontiert hatte. Unbewusst natürlich!

      „Vanessa“ hieß also die Tochter des Unfallopfers Fred Plose. Anfangs dachte ich, die 18-Jährige wäre noch viel jünger. Alina meinte, dass es bei ihr wohl wegen der tragischen Familienereignisse zu einer Entwicklungsverzögerung gekommen sei und sie auch innerlich noch keine junge Erwachsene, sondern noch eine Jugendliche wäre. Alina hatte, nachdem wir die Ploses verließen, noch einen Spaziergang mit Vanessa gemacht. Sie würde sie gerne in Therapie nehmen, berichtete sie, aber die junge Frau zögere noch. Sie hielt es auch für möglich, dass ich Vanessa nochmals genauer befragen könnte.

      Wir baten Vanessa diesmal auf die Dienststelle, was ihr nichts ausmachte, da sie sowieso in der Stadt etwas zu tun hatte.

      Ich wollte außer Birtele auch Alina dabei haben. Man weiß ja nie … In der Anwesenheit der Psychologin bemühte ich mich besonders um Einfühlsamkeit.

      „Vanessa“, begann ich, „wir haben uns Gedanken gemacht zu der Beziehung zwischen Ihrem Vater und seinem Bruder. Können Sie uns da weiterhelfen?“

      Vanessa schaute etwas verwundert: „Warum haben Sie sich da Gedanken gemacht?“ Ich antwortete nicht und sie dachte nach: „Für meinen Papa war Familie sehr wichtig. Und dazu gehörte auch sein Bruder. Aber vielleicht war mein Papa doch etwas eifersüchtig auf meinen Onkel.“

      „Du meinst, weil der beruflich größere Erfolge hatte als er?“, fragte ich. Das „Sie“ war plötzlich verschwunden. Doch Vanessa schien meine Duzerei nichts auszumachen.

       „Nein, davon weiß ich gar nichts. Ich mein, weil ich mich mit meinem Onkel immer so gut verstanden hab. Vielleicht war da mein Vater ein wenig eifersüchtig.“

      „Und mit deinem Vater war das nicht so gut? Hast du dich mit dem nicht verstanden?“

      „Ach, der tat immer alles für mich.“ Sie begann wieder zu weinen. „Aber irgendwie war das alles nicht so richtig ...“ Sie brach den Satz ab.

      „So richtig von Herzen?“, sprang