Helfried Stockhofe

Familienlieben


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„Ja, sie ist mein Augenstern! Sie war schon von klein an mein Liebling. Besonders seit ihre Mutter gestorben ist.“ Nun verfinsterte sich Jans Miene wieder und er stockte.

      „Das war für alle ein Schlag“, nutzte ich diese Pause.

      Jan nickte und wenn ich es richtig sah, hatte er Tränen in den Augen. Dann schüttelte er den Kopf, so als wollte er traurige Gedanken vertreiben. Und er wechselte wieder das Thema: „Der Fred war als Vater nicht besonders begabt. Er bemühte sich sehr, hatte Vanessa wohl auch gern, aber irgendwie fanden die beiden nicht richtig zueinander. Manchmal ist er sogar ganz bös zu ihr geworden, danach war er wieder überschwänglich verwöhnend.“

      „Ja, das ist alles sehr schade. Besonders weil er ja auch noch die Mutter ersetzen sollte.“

      „Das wäre wirklich gut gewesen, wenn der Fred nicht alleine geblieben wäre ... Haben Sie´s schon bemerkt?“, wechselte Jan abrupt das Thema.

      Wir wussten nicht, worauf er hinaus wollte: „Nein, was meinen Sie?“

      „Nun ich dachte, man muss kein Psychologe sein, um zu merken, dass das Mädel manchmal ganz schön neben der Spur ist.“

      „Das heißt?“, fragte ich ungeduldig.

      „Sie hat eben vor vielem Angst. Fährt lieber im Lift, statt die Treppen zu gehen. Nein, nicht aus Bequemlichkeit. Sie hat Angst vor Treppen. Auch Angst vor offenen Türen. Also alles umgekehrt wie bei den anderen … Wie heißen die? Phobiker! So heißen die doch, oder?“

      Ich nickte. „Das stimmt, das ist ungewöhnlich. Wissen Sie denn, warum das so ist?“ Ich war hellwach. Wie wenn er einen Köder legen würde, so kam mir das vor. Schade, dass Alina nicht dabei war.

      „Kein Mensch weiß das. Sie will es auch niemand erzählen. Kann das gut verbergen. Vielleicht will sie es selber nicht wissen. Aber ich glaub, manchmal ist das ganz schön schlimm für sie. Nicht so sehr, dass sie darauf Rücksicht nehmen muss, sondern weil sie sich als so gestört erlebt!“

      „Dann wäre doch eine fachliche Behandlung ganz sinnvoll!“

      „Beim Psychiater meinen Sie? Nein, das will sie nicht!“

      „Nun, ich dachte da eher an eine Psychologin, oder konkreter, an eine Psychotherapeutin.“

      Plose zuckte mit den Schultern. Aber ich ließ nicht locker:

      „Vielleicht sollten Sie ihr mal eine Gesprächstherapie bei Frau Alina Winner vorschlagen. Die beiden haben sich ja jetzt kennengelernt.“

      „Ich glaub nicht, dass Vanessa besonders gesprächig ist.“

      „Es muss ja nicht eine Gesprächstherapie sein. Frau Winner macht auch ganz besondere Gruppentherapien, bei denen gar nicht so viel geredet wird, sondern mehr mit Bewegung, Malen, Entspannung gearbeitet wird.“

      Jan schwieg. Er ging in die Küche und brachte auf einem Tablett Mineralwasser und Gläser herein.

      „Bitte, bedienen Sie sich!“

      Als wir später mit Alina über die Symptome des Mädchens sprachen, war die Psychotherapeutin sofort mit möglichen Ursachen für die Störungen zur Stelle. Die Psychologen sind da schnell bei der Hand, kommen gleich mit irgendwelchen Theorien daher. Manchmal weiß ich nicht, ob Alina mir damit helfen oder mir nur ihre Kompetenz beweisen will. Ich muss allerdings eingestehen, dass sich am Ende des Tages das meiste davon bestätigt, auch wenn es mir anfangs weit hergeholt erscheint. Der arme Birtele verdreht oft die Augen, wenn Alina wieder mit etwas loslegt. Sie ist da auch wirklich recht unvorsichtig, kommt gleich mit solchen gewagten Dingen wie dem Ödipuskomplex daher. Das mit dem Unbewussten haben wir inzwischen gefressen, der Birtele und ich, aber manch anderes ist uns zu exotisch. Alina sagte mir einmal, sie sei eigentlich sehr zurückhaltend mit den psychologischen Ideen. Du meine Güte, was denkt sich die Frau noch alles!

      Nun, was ich bei Vanessas Fall nachvollziehen – oder sagen wir besser akzeptieren - konnte, ist die Rückführung der Symptomatiken auf das dritte Lebensjahr der 18-Jährigen, weil damals der Tod ihrer Mutter sie doch sehr geschockt haben musste. Klar, dass dies nicht in den Kleidern hängenbleibt, sondern sich in die Seele eingräbt.

      Auch durch Jans Tränen war ich neugierig geworden. Ich fragte ihn, was damals passiert war. Er berichtete mit spürbarer Trauer und ohne erkennbare Nervosität von einem tragischen Unfall: Seine Schwägerin sei bei einem Treppensturz gestorben.

      Die genaueren Umstände entnahm ich dann einem Polizeibericht, den die Kollegen damals natürlich anfertigen mussten, weil eine Gewalttat nicht auszuschließen war. Es hieß, Frau Plose sei nachts an einer Kindersicherung hängengeblieben, an einem halbhohen Gittertürchen, das vor der oberen Treppenstufe angebracht war, damit die dreijährige Vanessa nicht die Treppe herunterfalle. Schlaftrunken sei Frau Plose gewesen und benommen von Beruhigungsmitteln, die sie regelmäßig zum Schlafen gebraucht hätte. Irgendetwas habe sie aufgeschreckt, vielleicht habe sie auch nur zur Toilette gehen wollen, die im Erdgeschoss lag. Der genaue Hergang war offenbar nicht festzustellen gewesen, aber es habe keine Hinweise auf Gewalteinwirkung gegeben. Der Mann sei damals nicht daheim gewesen, sondern in einer Kneipe. Sein Bruder habe im Erdgeschoss geschlafen. Motive für eine Tötung der Frau habe es nicht gegeben.

      Jan Plose erzählte uns noch, dass seine Schwägerin Eheprobleme gehabt hätte und wohl deshalb unter Schlafstörungen zu leiden hatte. Aber der Ehemann sei zum Unfallzeitpunkt nachweislich in einer Gastwirtschaft gewesen – das wäre ja eines der Eheprobleme gewesen ...

      Warum muss ich immer hinter jedem Todesfall ein Verbrechen vermuten? Weil drei Unfälle in einer Familie zu viel sind? Weil jedes aktuelle Verbrechen Vorläufer hat? Aber, mein Gott, 15 Jahre sind seit dem Tod von Frau Plose vergangen!

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