Anaïs Goutier

Isabelle und die Bestie


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endlich wieder in seinem eigenen Bett zu schlafen.

      Es war eine beschwerliche Reise, denn das Wetter wurde von Tag zu Tag ungemütlicher und in die kalten Herbststürme mischte sich immer häufiger eisige, schneidende Schneeluft. Der Winter war früh gekommen in diesem Jahr und der Kaufmann besaß keinen Pelzmantel mehr, der ihn hätte wärmen können.

      Glücklicherweise war er nur noch einen halben Tagesritt von dem bescheidenen Landgut entfernt, das jetzt sein Heim war, und er würde noch an diesem Abend seine beinahe abgestorbenen Hände und Füße am behaglichen Kaminfeuer in der kleinen Stube wärmen können, während Isabelle Klavier dazu spielte. Doch zuvor musste er noch den düsteren Wald durchqueren und das unbarmherzige Schneegestöber ließ ihn kaum die Hand vor Augen sehen. Die eisige Luft schnitt in sein Gesicht und ließ seine Augen tränen. So irrte er auf seinem erschöpften Pferd durch den finsteren Wald und als die Dämmerung hereinbrach, wurde ihm bewusst, dass er sich hoffnungslos verirrt hatte. Sein Magen knurrte vor Hunger und in der Ferne heulten die Wölfe, die wohl ebenso hungrig waren wie er. Wenn er jetzt rastete, würde er die Nacht kaum überleben. Er würde erfrieren oder den ausgehungerten Bestien zum Opfer fallen.

      Doch dann erblickte der Kaufmann in der Ferne ein heimelig flackerndes Licht, das so warm und einladend schien, dass er sein Pferd zur Eile trieb. Ob es die Kate eines Einsiedlers, die Hütte von Waldarbeitern oder gar das Häuschen einer Hexe war, er würde anklopfen und den Besitzer höflich um Obdach für diese stürmische Winternacht bitten.

      Doch die Quelle des flackernden Kerzenlichts war viel weiter entfernt, als der arme Kaufmann für möglich gehalten hatte und beinahe glaubte er, einem Irrlicht oder einem Trugbild hinterherzujagen, als das Licht auch noch nach einem langen Ritt ebenso weit entfernt zu sein schien wie zuvor.

      Seine Glieder waren steifgefroren und sein abgezehrtes Pferd würde bald unter ihm zusammenbrechen, als er endlich an ein großes schmiedeeisernes Tor gelangte. Dahinter führte eine schnurgerade Allee hoher alter Bäume zu einem riesigen Schloss. Der imposante Bau mit seinen Türmchen und Zinnen wäre eines Königs würdig gewesen, hätte er nicht so dunkel und bedrohlich gewirkt. Die Fratzen der Wasserspeier beäugten den Kaufmann mit Spott und Hohn und die prächtig verzierten Bogenfenster blickten wie dunkle, leere Augenhöhlen auf ihn herab. Nur an einem einzigen Fenster stand die fröhlich flackernde Kerze, die ihm den Weg hierher gewiesen hatte. Also war das so verlassen wirkende Anwesen bewohnt.

      Der Kaufmann fasste sich ein Herz und stieg von seinem Pferd, um mit einer vor Kälte und Furcht zitternden Hand gegen das ebenso herrschaftliche wie bedrohliche Tor zu drücken. Entgegen seiner Erwartung gab es wie von selbst nach und schwang geräuschlos auf.

      Mit bangen Schritten führte der Kaufmann sein Pferd die Allee entlang, bis er auf halbem Weg zwischen Tor und Schloss im Dunkel der Nacht die prächtigen Stallungen liegen sah. Wie von selbst schlug sein Pferd den Weg zu den Ställen ein, deren Tor weit offenstand. Kein einziges Tier war in den großzügigen Verschlägen zu sehen, aber es gab genug frischen Hafer und duftendes Heu, um die Pferde eines ganzen Regiments damit zu versorgen.

      Also band der Kaufmann sein geschwächtes Tier an und rieb sein nasskaltes Fell trocken. Er erwog, die Nacht neben seinem Pferd im Heu zu verbringen, doch es erschien ihm unrecht, wie ein Landstreicher Quartier zu beziehen, ohne um Erlaubnis zu bitten. Also zog er seinen Reisemantel enger um sich und stapfte durch den Schnee, der inzwischen schon einen Spann hoch auf dem Weg liegenblieb, zum Schloss hinüber.

      Ehrfürchtig blickte er zu dem herrschaftlichen Portal und der imposanten Tür empor, ehe er die verschneite Freitreppe erklomm. Mit steifgefrorenen Fingern betätigte er den großen vergoldeten Türklopfer, der als das Haupt eines brüllenden Löwen gestaltet war. Doch kaum hatte er den schweren Ring im Maul der Raubkatze berührt, schwang die Tür wie von selbst auf.

      Verwundert spähte der Kaufmann in eine große dunkle Halle mit marmornen Säulen und einem ebensolchen Fußboden, doch nirgendwo war ein Mensch zu sehen, der ihm die Tür geöffnet haben könnte. Er räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen, doch das Haus blieb still und sein Räuspern hallte in dem leeren Saal wider wie ein verzerrtes Echo.

      Doch durch den Türspalt gegenüber des Eingangs drang warmes Licht und er vermutete, dort auf die Herrschaft oder doch wenigstens auf einen Dienstboten zu treffen.

      Die Schritte des Kaufmanns lärmten auf dem marmornen Boden und kaum hatte er die Hälfte der Halle durchschritten, fiel die große Tür plötzlich geräuschvoll dröhnend hinter ihm ins Schloss.

      Der arme Mann erschrak furchtbar, doch auch der Lärm rief keinen Hausdiener auf den Plan. Also legte er die Hand an die Klinke der nächsten Tür und auch diese sprang wie von Geisterhand auf, ohne dass er etwas hätte tun müssen.

      Dahinter befand sich ein herrlicher, von zahlreichen Kerzen erleuchteter Saal mit einem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer loderte. Eine festlich, jedoch bloß für eine einzige Person gedeckte und mit unzähligen köstlichen Speisen bestückte Tafel ließ dem hungrigen Kaufmann das Wasser im Munde zusammenlaufen, doch natürlich wagte er nicht, etwas von den Köstlichkeiten anzurühren.

      Stattdessen trat er an den Kamin und wärmte seine klammen Hände, in der sicheren Erwartung, dass jeden Moment jemand eintreten und ihn zur Rede stellen würde. Doch als das nicht geschah und die Mattigkeit ihn beinahe übermannte, gestattete er sich, einen Moment in dem gemütlichen Samtsessel am Kamin auszuruhen und seine durchnässten Stiefel ans Feuer zu stellen. Eine Stunde oder mehr saß er da, nickte sogar einmal ein und es war eine wahre Wohltat für seine müden Glieder.

      Als sich noch immer niemand blicken ließ, kam er zu dem Schluss, dass die Herrschaft das für sie bereitete Nachtmahl verschmäht haben musste und er konnte nicht länger an sich halten, seinen furchtbaren Hunger zu stillen. Im Wissen, etwas Unrechtes zu tun, setzte er sich an die Tafel und nahm etwas Brot und Pastete. Er wollte wirklich nur ein paar Bissen tun, um seinen schmerzhaft knurrenden Magen zu besänftigen, doch die Speisen waren so schmackhaft, dass er nicht aufhören konnte. Bald hatte er vom Braten bis zu den Früchten von allem probiert und auch ein Glas schweren roten Wein dazu getrunken. Noch nie hatte der Kaufmann so köstlich gespeist und schon lange war er nicht mehr derart satt gewesen. Nun war er so müde und erschöpft, dass er kaum mehr die Augen offen halten konnte. In einem Anflug von Leichtsinn und Kühnheit, die wohl dem Wein und seiner Müdigkeit in gleichen Teilen zuzuschreiben waren, öffnete er die nächste Tür und fand dahinter ein prachtvolles Schlafgemach. Ohne noch einen klaren Gedanken zu fassen, legte er sich in das große weiche Bett und fiel im gleichen Moment in tiefen, erholsamen Schlaf.

       ***

      Der Kaufmann erwachte erst am anderen Morgen und im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war. Die Erlebnisse des Abends waren ihm wie ein seltsamer, aber schöner Traum erschienen, doch er befand sich noch immer in dem Schloss, das im Morgengrauen weit weniger finster wirkte, als in der Nacht. Goldene Stuckaturen zierten die mit Seide bespannten Wände und das Bett, in dem er geschlafen hatte, war so prunkvoll wie das eines Königs.

      Auf dem Waschtisch fand er eine Porzellanschüssel mit heißem Wasser darin und daneben ein frisches, sorgsam gefaltetes Hemd. Man hatte den ungebetenen Gast also durchaus bemerkt.

      Doch statt ihn hinauszuwerfen, hatte man Mitleid mit ihm gehabt, und der Kaufmann war gerührt von so viel Milde und Güte. Er hoffte, sich nun am Morgen bei seinen Wohltätern bedanken zu können, doch auch jetzt ließ sich niemand blicken. Stattdessen fand er in dem Saal, durch den er am Abend gekommen war, die Tafel zu einem stärkenden Frühstück gedeckt und diesmal ging er davon aus, dass das köstliche Mahl allein für ihn bestimmt war. Vergnügt ließ er sich die süßen und herzhaften Leckereien schmecken und schlürfte eine Tasse vortreffliche Schokolade dazu.

      »Ich danke Euch herzlich für Eure Gastfreundschaft!«, rief er, als er in die große Eingangshalle trat, doch auch diesmal hallte seine Stimme einsam durch den großen Saal.

      Draußen lag noch immer Schnee, doch an diesem frühen Morgen glitzerte er herrlich in den ersten Strahlen der Wintersonne. Der Kaufmann entschied, noch einmal um das Schloss herumzugehen, um vielleicht doch noch den Verwalter oder einen Gärtner anzutreffen, ehe er sein Pferd holen und nach Hause reiten würde.