nicht in Frage«, beschied der Vater, als seine Frau das Thema einmal zaghaft zur Sprache brachte. »Der Junge soll was Ordentliches lernen und Geld nach Hause bringen.«
Geld war knapp in der Familie, denn zu Helmut hatten sich im Laufe der Jahre drei Geschwister gesellt. Und wer beim Daimler schaffte, der hatte ausgesorgt fürs Leben, dem konnte nichts mehr passieren. Als sei man beim Staat untergekommen. Damals war das noch so.
So begann der vierzehnjährige Helmut gleich nach der Volksschule seine Lehre beim Autobauer in Untertürkheim. Die Beatles standen mit fünf Singles in den amerikanischen Charts, darunter »I Want to Hold Your Hand« und »Can’t Buy Me Love«, die Rolling Stones debütierten eben mit ihrem erstes Album, die so hieß wie die Band. Wer die Platten wohl kaufte? Helmut jedenfalls nicht, dafür war kein Geld übrig. Überdies besaß die Familie Eulert nicht mal einen Plattenspieler. Das ist das Erste, was ich mir kaufe, wenn ich etwas Geld übrig habe, schwor er sich.
Helmut war trotzdem gut informiert, weil er AFN hörte, den amerikanischen Soldatensender. Heimlich, denn wenn das der Vater mitbekam, setzte es Prügel. Er war nicht gut zu sprechen auf die Amerikaner, die sich in der ehemaligen Reiterkaserne auf dem Burgholzhof niedergelassen hatten. Er war auf überhaupt niemanden gut zu sprechen. Im Herbst, wenn sich auf dem Cannstatter Wasen das Volksfest drehte, trieb sich Helmut bei den Boxautos herum. Da waren immer die aktuellsten Hits zu hören, kostenlos.
Dem Beschluss des Vaters, ihn zum Daimler zu schicken, setzte Helmut keinen ernsthaften Widerstand entgegen. Die Schule langweilte ihn sowieso, er war keiner, der über Büchern hockte, er wusste nicht, was er anderes tun sollte, und außerdem war es sinnlos, dem Vater zu widersprechen, wenn der etwas entschieden hatte. Immer mehr war der Vater in seinem brütenden Schweigen gefangen, immer häufiger waren seine despotischen Anfälle. Der Sohn war zu jung, um auch nur zu erahnen, was das für ein Wrack war, das ihn drangsalierte.
Der Lehrling Helmut erwies sich als geschickter Handwerker, der schnell lernte, korrekt arbeitete und überhaupt recht anstellig war. Die Situation zu Hause hatte ihn gelehrt, Konflikten aus dem Weg zu gehen und Widerspruch hinunterzuschlucken. So einen konnten sie gebrauchen beim Daimler.
Er war aber auch einer, der genau beobachtete und sich seine Gedanken machte.
Am 12. April 1968, dem Karfreitag, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, saß Helmut Eulert auf einer Bank am Aussichtsturm auf dem Burgholzhof und schaute hinab ins Neckartal. Die Beatles hatten »Lady Madonna« herausgebracht und die Rolling Stones »Jumpin’ Jack Flash«, in Berlin hatte gestern irgendein Verrückter Rudi Dutschke niedergeschossen (geschieht ihm recht, diesem Kommunisten, sollten seine Arbeitskollegen später sagen, soll er doch rübermachen, wenn es ihm hier nicht passt, wobei die wenigsten wussten, dass er von »drüben« in den Westen gemacht hatte), ein paar Tage zuvor war in Memphis Martin Luther King ermordet worden (ist ja nur ein Neger, hatten seine Arbeitskollegen gesagt), in Esslingen und sonstwo noch hatten Demonstranten die Auslieferung der »Bild«-Zeitung blockiert, Autos brannten.
Helmut Eulert wusste nicht so recht, wovon die Studenten redeten, die Worte waren ihm fremd, aber zwei Dinge zumindest hatte er verstanden: Eine neue Zeit war angebrochen, und er hatte die Absicht, auf seine Weise daran teilzuhaben. Und die autoritären alten Säcke, wie sein Vater einer war, hatten ausgedient. Helmut Eulert fasste einen Entschluss. Genauer gesagt zwei Entschlüsse.
Mit einundzwanzig, sobald er volljährig war und ihm niemand mehr dreinreden konnte, würde er sich eine Frau suchen und seine eigene Firma gründen. Die richtige Reihenfolge musste sich noch zeigen.
Er war es leid, beim Daimler das machen zu müssen, was andere ihm anwiesen. Außerdem hatte er eine Idee. Mehr noch, eine Vision.
Das mit der Heirat hatte rein praktische Gründe. Er hatte es satt, Zeit und Geld in zickige Weiber zu investieren und dafür nicht mehr zu bekommen als ein bisschen Fummelei. Die sexuelle Revolution, musste er immer wieder erbittert feststellen, hatte den Cannstatter Burgholzhof bisher noch nicht erreicht. Vielleicht war er auch nur zu schüchtern.
Er verlor sich in seinen Träumen und merkte erst gar nicht, dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte.
»Wovon träumst du? Von einer scharfen Braut?«
Es war Horst Kieninger, sein alter Kumpel. Üblicherweise begann nach der vierten Klasse das Kastendenken. Wer aufs Gymnasium ging, wollte nichts mehr zu tun haben mit den Volksschülern, auch wenn man sich im Viertel ständig über den Weg lief. Doch Horst war anders. Sie waren nach wie vor Freunde, stiegen den Mädels nach und gingen gelegentlich einen saufen.
»Ich mache meine eigene Firma«, sagte Helmut.
»Träum weiter.«
»Und wenn du deinen Ingenieur hast, kommst du zu mir.«
Horst seufzte. »Erst muss ich mal dieses Scheißabitur hinter mich bringen.«
»Das schaffst du. Dann der Bund, vier Jahre Studium, das heißt, in ungefähr sechs Jahren fängst du bei mir an als mein Chefkonstrukteur. Dann bin ich aus dem Gröbsten raus.«
»Sechs Jahre! Eine Ewigkeit! Weiß nicht, ob ich das noch erlebe. Übrigens gehe ich nicht zum Bund, ich verweigere. Du etwa nicht?«
Helmut schüttelte den Kopf. »Was die für Fragen stellen! Sie sind also gegen Gewalt? Und wenn jemand Ihre Freundin bedroht, was machen Sie dann? Die legen mich aufs Kreuz. Verweigern ist nur was für Intelligenzbolzen wie dich.«
Er würde die achtzehn Monate beim Bund runterreißen und sich durch nichts, aber auch gar nichts provozieren lassen. Wer am eigenen Leib erfahren hatte, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind, dem konnte kein dumpfer Feldwebel etwas anhaben.
»Gehst du mit zur Demo?«, fragte Horst.
»Gegen was?«
»Gegen die Kapitalistenschweine, gegen den Imperialismus, gegen den Faschismus, was weiß ich, das Übliche halt. Aber sag mal, wenn du deine Firma hast, bist du selber doch auch ein Kapitalistenschwein, oder?«
»Wir nicht. Wir machen das anders. Also beeil dich mit dem Studium.«
»Jetzt geh ich erst mal zur Demo. Komm mit, das wird ein Mordsspaß.«
Aber Helmut blieb sitzen und feilte an seinen Träumen.
Wir machen das anders: Helmut war es ernst damit. Klar wollte er Geld verdienen, viel Geld nach Möglichkeit, aber nicht auf dem Rücken seiner Leute. Niemals, schwor er sich, würde er sie so drangsalieren und ausbeuten, wie er das tagtäglich am eigenen Leib erfuhr. Niemals sollte das Streben nach Gewinn über den Anstand triumphieren.
Pünktlich am 23. April 1971, Helmuts einundzwanzigstem Geburtstag, eröffnete die »Eula – Eulert Motoren- und Apparatebau« in einer aufgelassenen Fabrikhalle in Bad Cannstatt. Helmut hatte sich in den vergangenen drei Jahren kaum etwas gegönnt und jeden Groschen auf die Seite gelegt, den er erübrigen konnte. Am selben Tag kam das Rolling-Stones-Album »Sticky Finger« auf den Markt.
Einen Plattenspieler besaß er immer noch nicht.
Dafür seine eigene Firma.
Wenn die auch aus nicht viel mehr bestand als aus veralteten Maschinen, die er bei Betriebsauflösungen zusammengekauft hatte, und der vagen Hoffnung auf ein paar Aufträge.
Er stand in der halb verfallenen Halle und schaute hoch zum Dach, durch das der Regen tropfte. Zur Feier des Tages hatte er sich eine Flasche Sekt geleistet, die er zusammen mit Horst leerte.
»Du musst verrückt sein, Helmut. Wie willst du das schaffen? Bevor du produzieren kannst, musst du erst mal renovieren.«
»Im Winter wird’s kalt werden, die Heizung ist kaputt. Aber ich krieg das hin.«
»Die Halle ist doch viel zu groß für deine Ein-Mann-Klitsche. Eine Garage hätte es für den Anfang auch getan.«
»Eines Tages werden wir den Platz brauchen. Also mach hin mit deinem Studium.«
Horst seufzte. »Wenn’s nicht so viel Ablenkungen gäbe.«
»Lass