Till Angersbrecht

Wien!


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Der Fall

       Eine schwankende Menge

       Abstieg in die Hölle

       Der Spielberg

       Die Frau mit dem Messingschopf

       In der Himmelpfortgasse bei Gusti

       Der Plan

       In die Furche gestreut

       Conditio humana

       Der Leutnant

       Im leopoldinischen Trakt

       Die kleine Ewigkeit einer verströmenden Zeit

       Der Mann auf der Estrade

       Unendlichkeit aus der Enge

       Wien!

       Impressum neobooks

      Dr. Brohh

       Wien!

      Till Angersbrecht

      Jeder Morgen ist im Nachhinein hell, strahlend hell. Umso lichter, je weiter er in der Vergangenheit liegt. So war es auch damals, ich in diese Stadt gelangte, ein Morgen, wie er nicht schöner sein konnte. Denn natürlich habe ich meine Verpflanzung an die Ufer der Donau als einen Aufstieg erlebt – und als ein großes Kompliment noch dazu, denn ich hatte mit meinen zwei, drei Feuilletons die Aufmerksamkeit meines Chefs erregt. Gelungen waren sie schon, aber was will das schon heißen? Meiner Unzulänglichkeiten bin ich mir, offen gestanden, nur zu deutlich bewusst. Dass jemand ein paar halbwegs zusammenhängende Zeilen zustande bringt, ist ja wirklich keine besondere Leistung. Das gelingt beinahe jedem, der das Alphabet in der Schule gemeistert hat. Doch war es nun einmal so, dass mein lieber Chef, Erbrecht Ebenholzer, einen Narren an mir gefressen hatte. Und verständlicherweise war ich der Letzte, ihn deswegen zu tadeln. Aber dass ich seit einiger Zeit an nichts anderes mehr dachte als an meine künftige Rolle in Wien, dieser einzigartigen und noch dazu einzigartig seltsamen Stadt, ist zweifellos richtig. Denn Sonderbares gibt es dort wirklich zu Hauf. Von glaubwürdigen Augenzeugen war mir manches berichtet worden, z.B. von Herren der alten Schule, die einer Frau mit den Worten „Küss die Hand, meine Gnädigste“ ihre Aufwartung machen.

      Welch ein Märchenreich, dachte ich. Dort lebt sie noch, die überall sonst längst versunkene Zeit! Und die Reichen und Schönen, so wusste ich ebenfalls, strömen dort alljährlich auf dem Opernball in einem unglaublich vornehmen Bauwerk mitten im Herzen der Stadt zusammen, nur um ein Fest des Eros zu zelebrieren, das außerhalb dieser Insel der Seligen nur in lausigen Techno-Discos gefeiert wird. Als Student hatte ich die Donaumetropole schon mehrfach, wenn auch immer nur kurz, besucht. Ich liebte sie auf den ersten Blick, diese Stadt im vornehmen Frack: wo im ersten Bezirk um die Hofburg noch immer der Kaiserlook der alten Habsburger Monarchie die Besucher in ehrfürchtiges Staunen versetzt. Unsereiner kommt doch gewöhnlich aus Städten, wo man sich fühlt wie unter einer Motorhaube: links und rechts pochende Kolben, Filter, Dynamos - kurz alles, was für das mechanische Funktionieren notwendig ist. Wien dagegen lebt die ganzen sieben Tage einer Woche in poetischem Festgewand, davon hat man bei uns gar keine Ahnung. Die meisten heutigen Städte tragen das ganze Jahr ja nur die prosaische Kleidung von Alltag und Arbeit, Arbeit und Alltag.

      Wie schön diese Stadt doch ist – das war es, was meinen Kopf wie ein Fusel in angenehme Verwirrung versetzte. Und ihn auch jetzt noch in diese belebende Stimmung versetzen würde, wenn sich nicht inzwischen etwas ereignet hätte, das mit dem Wort ‚ungeheuerlich’ völlig unzureichend benannt ist, aber an dieser Stelle nur angedeutet sein kann.

      Zu der Stadt an der Donau, wo meine Tätigkeit nun beginnen soll, gehört für mich auch Dr. Brohh, der Geheimnisvolle! Seine Aufsätze hatte ich natürlich schon vorher gekannt und war bei ihrer Lektüre jedes Mal ins Schwärmen geraten. Labyrinthisch erscheinen sie mir, diese überaus klugen Essays, so verschlungen, so voller unerwarteter Veduten. Manchmal sind es Ausblicke ins Weite, manchmal Pfade, die in die Tiefe wie in Abgründe führen. Logik spielt für Dr. Brohh nur eine untergeordnete Rolle, dennoch versteht ihn jeder gleich auf den ersten Blick. Der Mann denkt in Gefühlen. Ich war so angetan von seinen Stücken, dass ich mich sogar zu drei, vier Zeilen einer Lobeshymne verstieg.

      „Jede Stadt hat ihre Besonderheiten, Shiras seine Rosen, Venedig seine Kanäle, Rom das Kolosseum, aber Wien brüstet sich mit ganz anderen Dingen: Es hat seinen Geist, der sich regelmäßig in sterblicher Hülle verkörpert, und zwar in keinem Geringeren als Dr. Hieronymus Brohh. Der ist seines Zeichens Orakel, genauer gesagt, ein Kaffeehausorakel, dessen Verlautbarungen über Gott und die Welt unter den führenden Kreisen der Stadt einen hervorragenden Ruf genießen. Dr. Brohh schreibt über alles: über Gott, den Teufel, den letzten Kaiser und den Anstieg des Meeresspiegels. Natürlich ist er nirgendwo kompetent, wie es Fachleute sind, die nur von ihresgleichen gelesen werden. Nein, Dr. Brohh wird gerade deswegen von allen verstanden, weil er aus der Tiefe des Bauches redet.“

      Glücklicherweise habe ich diese pathetischen Zeilen über den Bauchredner Brohh gar nicht erst abgeschickt, sondern sie dem Papierkorb zu fressen gegeben. Brohh – Brohh mit Doppel-H, bitte schön, wie er stets zu betonen pflegt – hat mein Lob nun wirklich nicht nötig: Er ist eine Wiener Institution. Ich würde sagen, dass man ihn aus Wien so wenig wegdenken kann wie den Stephansdom, die Lippizaner, das Burgtheater, den Parteienproporz oder die Kapuzinergruft. Deswegen gab es unmittelbar nach meiner Ankunft für mich auch gar keine andere Wahl, als mich um ein Treffen mit dem stadtbekannten Mann zu bemühen. Wie sollte ich Wien und seine Menschen ergründen, ohne dabei aus dem hierzu berufensten Munde belehrt zu werden?

      Brohh imponiert mir sogleich durch seine Körperfülle. Stattlich, geht es mir durch den Kopf, diese großzügige, imponierende, geradezu einschüchternde Leibesmasse. Als literarischer Anfänger dürfte man sich, so wollte es mir scheinen, eine solches Volumen nicht leisten. Das will verdient und erarbeitet sein.

      Brohh lächelt mir skeptisch, wenn auch keineswegs unfreundlich zu, als ich ihm meinen Vorsatz eröffne, in die Tiefen der Wiener Seele vorzudringen. Deswegen sei ich hier.

      Na servus, junger Mann, tollkühn sind Sie, wirklich tollkühn. Typisch deutsche Naivität, das muss ich Ihnen schon sagen.

      Brohh schnippt mit den Fingern, als hätte ich ihm soeben eine Sensation offenbart.

      Übrigens haben das schon viele Ihrer Landsleute versucht, sind aber alle kläglich gescheitert. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf. Trinken Sie erst mal drei Jahre lang in einem von unseren Heurigenbeisln. Ich gebe Ihnen da gerne eine Empfehlung im Hinblick auf die zu inhalierende Flüssigkeit. Es muss nicht unbedingt der beste Jahrgang sein, den Sie sich inkorporieren. Wichtig ist nur, dass Sie regelmäßig im Vollrausch sind, Wien ist nämlich mit Vernunft nicht zu fassen, schon gar nicht mit kantischer Vernunft,